Fall 2 Bindung des Staatsanwalts an höchstrichterliche Rechtsprechung im Ermittlungsverfahren; Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt› Vorüberlegungen
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Die Aufgabenstellung hat das Problem einer Bindung der Staatsanwaltschaft an die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gegenstand. Die Frage ist vor dem Hintergrund problematisch, da die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens hinsichtlich der Anklageerhebung verbindliche Entscheidungen treffen kann, bei denen das Strafverfahrensrecht eine nur eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit vorsieht (vgl. §§ 171 f. StPO). Normativ eingebettet ist die Frage in eine Untersuchung der Strafbarkeit des Staatsanwalts wegen der den Beschuldigten begünstigenden Entscheidung. Eine Beurteilung strafverfahrensrechtlicher Fragen innerhalb materiell strafrechtlicher Bearbeitungen ist eine nicht selten anzutreffende Konstellation. Rechtspraktische Relevanz besteht etwa bei einer Untersuchung der Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns innerhalb der Rechtfertigung strafrechtlich tatbestandlicher Ermittlungsmaßnahmen oder im Hinblick auf die Strafvereitelung bei der Bestimmung der Grenzen des strafverfahrensrechtlich noch zulässigen Verteidigerhandelns. Für den Staatsanwalt ist wegen dessen funktionaler Stellung im Strafverfahren zunächst eine Rechtsbeugung in Betracht zu ziehen. In diesem Rahmen treten bei der Prüfung der Voraussetzungen bereits erste Querverbindungen zwischen materiellem und formellem Recht auf. Bei der Strafvereitelung durch Unterlassen sind dessen strafverfahrensrechtlichen Pflichten im Zusammenhang mit der Bestimmung von Garantenstellung und Garantenpflicht von Relevanz. Die Prüfung der Strafbarkeit ist von durchaus gehobenem Anspruch, da die Rechtsbeugung einen Tatbestand darstellt, der dem Studierenden nicht tagtäglich in der praktischen Fallbearbeitung begegnet. Jedoch ist der Tatbestand für die Rechtspflege von erheblicher Praxisrelevanz, sodass eine eingehende Auseinandersetzung auch im Zusammenhang mit dem Strafprozessrecht geboten ist.
Fall 2 Bindung des Staatsanwalts an höchstrichterliche Rechtsprechung im Ermittlungsverfahren; Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt› Gliederung
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I. |
Strafbarkeit aus § 339 StGB |
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1. |
Tatbestand |
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a) |
Objektiver Tatbestand |
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aa) |
Tauglicher Täter |
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bb) |
Tatsituation: bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache |
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cc) |
Tathandlung: Rechtsbeugung |
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(1) |
Ältere subjektive Theorie |
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(2) |
Pflichtwidrigkeitslehre |
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(3) |
Objektive Theorie und Rechtsprechung |
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b) |
Zwischenergebnis |
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2. |
Zwischenergebnis |
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3. |
Ergebnis |
II. |
Strafbarkeit gemäß § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB |
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1. |
Objektiver Tatbestand von § 258 Abs. 1, § 258a Abs.1, § 13 Abs. 1 StGB |
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a) |
Tauglicher Täter |
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b) |
Strafbare fremde Vortat |
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c) |
Vereitelungserfolg |
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d) |
Vereitelungshandlung durch begehungsgleiches Unterlassen gem. § 13 Abs. 1 StGB |
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aa) |
Unterlassen gebotener Handlung/Quasi-Kausalität |
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bb) |
Garantenstellung |
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2. |
Subjektiver Tatbestand § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB |
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3. |
Rechtswidrigkeit |
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a) |
Rechtfertigung aus amtlichem Handeln |
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aa) |
E.A. rechtfertigende Wirkung der Nichtverwirklichung der Rechtsbeugung |
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bb) |
Konkurrenzlösung |
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cc) |
A.A Straflosigkeit über die allgemeinen Grundsätze |
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dd) |
Stellungnahme |
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b) |
Zwischenergebnis |
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4. |
Schuld |
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5. |
Sperrwirkung der Rechtsbeugung |
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6. |
Ergebnis |
III. |
Gesamtergebnis |
Fall 2 Bindung des Staatsanwalts an höchstrichterliche Rechtsprechung im Ermittlungsverfahren; Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt› Lösungsvorschlag
Lösungsvorschlag
I. Strafbarkeit aus § 339 StGB
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S könnte sich wegen Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB strafbar gemacht haben, indem er bei der Beurteilung der Anklagereife nicht der herrschenden Rechtsprechung folgte und, anstatt die Sache anzuklagen, eine Einstellung mangels Tatverdachts verfügte.
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S müsste tatbestandlich gehandelt haben und mithin zunächst den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung verwirklicht haben.
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tauglicher Täter
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S müsste tauglicher Täter der Rechtsbeugung gewesen sein. In Betracht kommen Richter, andere Amtsträger oder Schiedsrichter. Der Staatsanwalt ist Amtsträger i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a StGB. Mithin ist S tauglicher Täter.
bb) Tatsituation: bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache
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S müsste in seiner amtlichen Eigenschaft damit betraut gewesen sein, eine Rechtssache zu entscheiden oder zu leiten. Eine Rechtssache ist jede Angelegenheit mit Rechtsbezug, bei der mehrere Beteiligte mit – jedenfalls möglicherweise – widerstreitenden rechtlichen Interessen einander gegenüberstehen und über die in einem rechtlich vollständig geregelten Verfahren nach Rechtsgrundsätzen zu verfahren und zu entscheiden ist.[1] Für eine Leitung oder Entscheidung der Rechtssache kommt es auf die Stellung des Amtsträgers im konkreten Verfahren an. Sie erfordert eine beherrschende Stellung des Täters in dem jeweiligen Verfahren, dessen Neutralität sowie einen gewissen Grad sachlicher Unabhängigkeit in seiner Person.[2] Die entfaltete Tätigkeit darf nicht als bloßer Rechtsvollzug erscheinen.[3] Die Betrauung des Staatsanwalts mit einer Rechtssache und mithin dessen rechtliche Erfassung durch den Tatbestand der Rechtsbeugung sind umstritten.
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(1) |
E.A.nach kann einem Staatsanwalt bereits keine Leitungs- oder Entscheidungsfunktion in einer Rechtssache zukommen. Er erscheine vielmehr als Ankläger und als Anwalt des Staates. Er ist daher selbst Partei des Strafverfahrens.[4] Insbesondere eine bei der Entscheidung unabhängige Position, die der des Richters nach Art. 97 GG gleichkomme, scheide schon wegen der Weisungsgebundenheit gemäß § 146 GVG aus. |
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(2) |
Nach der h.M. und Rspr.kommt auch ein Staatsanwalt grundsätzlich als Täter der Rechtsbeugung im Rahmen des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens bei allen verfahrensabschließenden Entscheidungen Betracht, wie etwa bei der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO.[5] Der einzelne Staatsanwalt habe hierbei die Entscheidungskompetenz über eine Rechtssache inne, da die Staatsanwaltschaft in diesem strafprozessualen Stadium als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ über weitreichende Entscheidungskompetenzen hinsichtlich des weiteren Verfahrensfortgangs verfüge. |
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