III. Mündliches Verfahren
110
Das mündliche Verfahren (Art. 20 IV GHEU-Satzung) dient den Beteiligten dazu, ihren Standpunkt zu den strittigen Sach- und Rechtsfragen noch einmal darzustellenund erfüllt insofern den Anspruch auf rechtliches Gehör. Daneben haben die beteiligten Richter und der Generalanwalt die Möglichkeit, klärungsbedürftige Fragen zu stellen. Auf das mündliche Verfahren kann, ebenso wie auf eine Beweisaufnahme, verzichtet werden.
111
Den Abschluss der mündlichen Verhandlung bilden die (in der Praxis häufig zu einem späteren Zeitpunkt gestellten) Schlussanträge des Generalanwalts(Art. 82 I VerfO-EuGH), soweit gem. Art. 20 V GHEU-Satzung nicht auch darauf verzichtet wird.
112
Die geheime Beratung der Spruchkammerbildet den gerichtsinternen Verfahrensabschluss, an dessen Ende die Kammer mit einfacher Mehrheit über die Rechtssache entscheidet. Abweichende Meinungen oder Sondervoten sind nicht möglich. Auch das Abstimmungsergebnis wird nicht veröffentlicht.
113
Bei vorangegangener mündlicher Verhandlung wird durch Urteilentschieden, das in öffentlicher Sitzung verkündet wird. Ansonsten entscheidet das Gericht durch Beschluss, der den Parteien zugestellt wird. Die notwendigen Entscheidungsinhalte ergeben sich aus den Art. 87 bzw. Art. 89 VerfO-EuGH. Mit Verkündung bzw. Zustellung erwachsen die Entscheidungen in Rechtskraft. Die Urteils- oder Beschlussformel wird im Amtsblatt der EU und im Volltext auf der Homepage des GHEU veröffentlicht. Gleichzeitig werden ausgewählte Urteile in die amtliche Sammlung des GHEU aufgenommen.
114
Zur Information der Öffentlichkeit und zur Bearbeitung am Gerichtshof, dessen Arbeitssprache Französisch ist, werden die Verfahrensdokumente ins Französische übersetzt. Urteile und Entscheidungen, die in der amtlichen Sammlung, d.h. auf der EUR-Lex-Website[26] veröffentlicht werden, werden in alle Amtssprachen der EU übersetzt. Andere Urteile und Entscheidungen werden in der Beratungs- und Verfahrenssprache, d.h. in französischer und ggf. einer weiteren Sprache auf der Website des Gerichtshofs veröffentlicht. Ob eine Entscheidung in die Sammlung der Rechtsprechung aufgenommen wird, richtet sich nach der Wichtigkeit der Rechtssache und der Einschätzung des entscheidenden Spruchkörpers.
115
Die Vollstreckbarkeit der Urteilerichtet sich aufgrund des Verweises in Art. 280 AEUV nach den in Art. 299 II bis IV AEUV geregelten allgemeinen Grundsätzen über die Vollstreckung von Rechtsakten des Rates, der Kommission oder der EZB. Vollstreckt wird nach innerstaatlichem Recht und durch innerstaatliche Behörden. Vollstreckungsfähig sind Leistungsurteile. Gestaltungs- oder Feststellungsurteile sind es nicht. Daher können im Vertragsverletzungsverfahren ergangene Urteile (vgl. Art. 260 I AEUV) nicht vollstreckt werden.[27]
§ 3 Der Gerichtshof der EU› E. Auslegung des Unionsrechts
E. Auslegung des Unionsrechts
116
Unter der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Art. 19 I UA 1 S. 1 EUV), mit der der GHEU beauftragt ist, ist die Konkretisierung des Unionsrechts und die Subsumtion von Sachverhalten, die den zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten zugrunde liegen, zu verstehen. Der GHEU widmet sich dieser Kernaufgabe – wie andere nationale und internationale Gerichte – anhand des klassischen juristischen Kanons der Auslegungsmethoden. Auch wenn insoweit weitgehende Deckungsgleichheit mit den aus der deutschen Rechtsdogmatik bekannten Methoden besteht, gibt es im Detail durchaus erwähnenswerte Besonderheiten im Unionsrechtssystem.
I. Anerkannte Auslegungsmethoden
117
Zu den anerkannten und praktizierten Auslegungsmethoden zählen die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung. Während die historische Auslegung im Kontext des internationalen Rechts nur mit Einschränkungen heranzuziehen ist, ist die teleologische Auslegung im Unionsrecht besonders ausgeprägt.
1. Grammatikalische Auslegung
118
Die wortlautorientierte Auslegung fragt nach dem Bedeutungsgehalt des Begriffs vor dem Hintergrund des in der Sprachgemeinschaft vorherrschenden Verständnisses. In der EU mit ihren 24 gleichberechtigten Amtssprachen(Art. 55 I EUV, Art. 358 AEUV) sind daher grundsätzlich alle Sprachfassungen einzeln zu berücksichtigen und abzugleichen. Insofern wohnt der grammatikalischen Auslegung immer ein vergleichender Aspekt inne, der in vollem Umfang freilich häufig nicht praktikabel ist. In der Rechtsprechungspraxis kommt deswegen zum einen den am weitesten verbreiteten Amtssprachen (d.h. dem Englischen, Französischen und Deutschen) größere Bedeutung zu, zum anderen kommt es regelmäßig zu einer eigenständig unionsrechtlichen Begriffsbildung,[28] die sich von nationalen Begriffsverständnissen löst.
119
Dadurch wird gleichzeitig der Autonomie der UnionsrechtsordnungRechnung getragen. Dieser in den Entscheidungen Van Gend en Loos [29] und Costa/ENEL [30] entwickelte Grundsatz besagt, dass das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnungdarstellt. Sie hat absoluten Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen und darf durch nationales oder zwischenstaatliches Recht nicht beeinträchtigt oder in ihrem Bedeutungsgehalt verändert werden. Bereits im Rahmen der Auslegung soll vermieden werden, dass nationale Rechtsbegriffe auf das Unionsrecht übertragen werden und dieses determinieren könnten. EU-Vorschriften sind folglich unionsrechtlich-autonom auszulegen.
Beispiel:
In der Entscheidung Lawrie-Blum stellte der EuGH fest, der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag [nun Art. 45 AEUV] habe eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung.[31] Als Arbeitnehmer wird danach grundsätzlich jeder eingestuft, der während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.[32] Auf die Arbeitnehmereigenschaft nach nationalem Recht kommt es damit nicht an. Deutschland durfte somit Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten den Vorbereitungsdienst für ein Lehramt nicht auf Grundlage ihrer Nationalität verweigern.
2. Systematische Auslegung
120
Im Rahmen der systematischen Auslegung wird die Stellung einer Rechtsnorm im Zusammenhang mit anderen Normender gleichen Vorschrift, des gleichen Abschnitts oder des gesamten Rechtstextes gewürdigt. Die Grundannahme dabei ist, dass der Normgeber gleichen Begriffe eine konsistente Bedeutung geben wollte und dass Normen in ihren Verwendungszusammenhängen sinn- und wirkungsvoll auszulegen sind.
121
Im Unionsrecht ist daher eine Norm in Übereinstimmung mit dem gesamten hierarchisch gleich- oder übergeordneten Recht auszulegen.
Beispiel:
Als Beschränkungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten nach den Art. 36, 45 III und Art. 51 AEUV werden gleichlautend die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit genannt. Mittels systematischer Auslegung kann damit die sog. Konvergenz der Grundfreiheiten,[33] d.h. der Gleichlauf ihrer Prüfungen, auch auf Rechtfertigungsebene begründet werden.
122
Eine besondere Ausprägung der systematischen Auslegung ist die sog. primärrechtskonforme Auslegungdes abgeleiteten EU-Rechts. Die Normenhierarchie des Unionsrechts sieht die Unwirksamkeit von Normen vor, die gegen höherrangiges Recht verstoßen.[34] Deshalb muss zuvorderst versucht werden, die niederrangige Norm im Einklang mit dem höherrangigen Recht auszulegen, da die Norm nur so ihre Wirksamkeit behalten kann. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Eine am Sekundärrecht orientierte Auslegung des Primärrechts verkennt, dass das Primärrecht Geltungsgrund allen Sekundärrechts ist und die EU-Mitgliedstaaten als Herren der Verträge das primärrechtliche Programm und damit auch den Handlungsrahmen des Unionsgesetzgebers vorgeben, und nicht umgekehrt.[35]
Читать дальше