2. Konkreter Fall oder abstrakte Theorie? Wie Verwaltungsrecht gelehrt wird
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Die Ausbildung im zweiten Studienjahr entspricht sicherlich überwiegend dem, was von einem bestimmten verwaltungswissenschaftlichen Standpunkt aus so heftig kritisiert wird. Sie vermittelt den Gebrauch einer „juristischen Dogmatik“ „unter praxisorientierten Vorzeichen und propagiert eine Art juristisches Ingenieurswesen“.[152] Die Jahrbücher, in denen Klausurthemen veröffentlicht werden, bestätigen diese These:[153] Die dissertation générale (allgemeiner Aufsatz) nimmt einen gewissen Raum ein, häufiger ist jedoch die étude de cas (Fallbearbeitung), und die Königsdisziplin bleibt der commentaire de texte (Besprechung eines Textes, im Allgemeinen eines Urteils des Conseil d’État ). Werden „die neuen Ufer des Verwaltungsrechts“ also insoweit ignoriert? Der von Jacques Caillosse so genannte „Wandel der Formen von Rechtsproduktion“ und die „fortschreitende Hybridisierung“ der Verwaltungsorganisation?[154] All das, was die Realität zunehmend komplexer macht und die Bedeutung des Verwaltungsrechts zu verändern scheint? Sicher nicht. Lehrkräfte und Studenten können die zahlreichen Publikationen nicht ignorieren, die den Wandel und die Schwächung der hergebrachten Verwaltungsrechtsstrukturen beschreiben und sich mit der Frage nach Erneuerungsmöglichkeiten beschäftigen.[155] Da mehr in Bewegung denn je, ist das Fach schwierig zu erfassen. Man wird aber nicht wirklich von einer Krise sprechen können. Es handelt sich wohl eher um ein vorübergehendes Unwohlsein.
3. Die „Erzählung der Verwaltung über sich selbst“
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Schon aufgrund ihrer Herkunft oszillieren verwaltungsrechtswissenschaftliche Forschung und universitäre Lehre zwischen zwei Polen: Dem von ihnen konzipierten Verwaltungsrecht (das aus einzelnen Regeln besteht) und der Verwaltung. Je nach Standpunkt ist die Perspektive eine andere. Deshalb muss man feststellen, dass in einer auf das Recht zentrierten Ausbildung die Verwaltung „nur indirekt vorkommt“.[156] Sie ist zwar allgegenwärtig, aber nur als Zerrbild, gespiegelt in einem Recht voller Eigensinn, nicht in ihrer empirischen Realität.[157] Wenn man also ein gewisses Unwohlsein konstatieren kann, dann wohl wegen des diffusen Gefühls, dass noch eine andere Imagination am Werk ist, geprägt insbesondere durch die anglo-amerikanischen Management-Konzepte, Quellen neuer Mythen. Zunehmend im positiven Recht gegenwärtig und auch vielbeschrieben[158] sei hier die „Regulierung“ als Beispiel genannt, ein Konstrukt unserer Vorstellungskraft und vielleicht auch eine Glaubenssache. Werden wir also Zeugen einer veritablen „Umwälzung juristischen Denkens“?[159] Kann man noch von „Verwaltungsrecht“ sprechen? „ [Es] stellt sich nunmehr die Frage nach einer Bezeichnung für dieses namenlose rechtliche Phänomen: Nach und nach löst das ‚Recht des öffentlichen Handelns‘ das alte ‚Verwaltungsrecht‘ ab.“[160] Sicherlich tut sich an dieser Stelle ein Forschungsfeld auf, nicht nur in Frankreich.[161]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen› § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich› IV. Die Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft
IV. Die Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft
1. Wie kam es zur Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft und von welchen Konflikten wurde sie begleitet?
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Da die Verwaltungsrechtswissenschaft weiterhin größtenteils das Werk des Conseil d’État ist, ging ihre Europäisierung teilweise mit dem Wandel seiner Rechtsprechung und daher mit der Europäisierung des Verwaltungsrechts selbst einher. An dieser Stelle sind die Wissenschaft und ihr Gegenstand wieder einmal kaum voneinander zu trennen. Verallgemeinernd gesagt scheint sich die Mehrzahl der Verwaltungsrechtler in den Dienst der Europäisierung gestellt zu haben, die zunächst als Anpassung des französischen Verwaltungsrechts an das Europarecht begriffen wurde. Damit sei aber nicht gesagt, dass dies ohne Konflikte ablief. Einer der bedeutendsten entspann sich angesichts der gemeinschaftlichen Marktliberalisierungspolitik in Wirtschaftszweigen, die bisher von staatlichen Monopolunternehmen kontrolliert wurden. Der Begriff der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (vgl. jetzt Art. 14 und 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) stieß auf Unverständnis, und man sah bedroht, was man in Frankreich als services publics bezeichnet. Es gab Debatten über die Zukunft des so genannten „service public à la française“. Lehrbücher zum Recht der services publics wurden veröffentlicht und entsprechende Vorlesungen eingeführt;[162] Kolloquien wurden ebenso organisiert wie politische Demonstrationen und Podiumsdiskussionen. Ein Kommissionsbericht unter Vorsitz des Vizepräsidenten des Conseil d’État zeigte auf, dass zwischen dem „juristischen Dogma des service public“ und den zwischen 1930 und 1940 entstandenen „konkreten Organisationsstrukturen“ der services publics zu unterscheiden sei. Letztere wurden sehr wohl in Frage gestellt, das Dogma an sich jedoch, und das war die Hauptsache, blieb ungeschoren.[163] Gab die folgende Entwicklung diesem Verständnis Recht? Das ist eine Frage, die weiterhin offen bleibt.
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Nachdem man sich einmal auf die „Europa-Kompatibilität“ des Verwaltungsrechts eingelassen hatte, gestaltete es sich „schwierig angesichts der komplexen Materie“,[164] die Dynamik der Europäisierung in ihrer Tragweite einzuschätzen. Zweifellos stellt sie eine traditionelle Definition des Verwaltungsrechts, die nicht quellenorientiert erfolgt,[165] nicht in Frage. Genauso wenig steht sie der Annahme von Sonderregimen im Allgemeininteresse entgegen. Zwar ist möglicherweise der Umfang jener Bereiche im Europarecht und im französischen Recht nicht deckungsgleich und in der Folge der europäische Verwaltungsbegriff ein anderer als der französische. Das wirkt sich jedoch nur insofern aus, als damit eine altbekannte Debatte neues Leben erhält, gab es doch in Frankreich selbst nie eine gesicherte Antwort auf diese Frage. Die mythenhafte Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts, die in Wirklichkeit vor allem die Eigenständigkeit des Conseil d’État gegenüber der Cour de cassation betraf, hat heute sicherlich ihre Bedeutung verloren. Das spielt aber keine große Rolle, zumal der Conseil d’État sich selbst in einem System verortet, in dem er außer mit dem Conseil constitutionnel auch noch mit den europäischen Gerichten zu einer Koexistenz finden muss. Was das materielle Recht anbelangt, so bringen die europäischen Normen einige Umwälzungen mit sich, von denen gesagt wurde, die französische Lehre habe sie noch gar nicht registriert.[166]
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Unter diesen Umwälzungen, die zwar nicht ausschließlich auf die Europäisierung zurückzuführen, aber doch sicherlich durch sie beschleunigt worden sind, kann man hervorheben, was gerne als „Subjektivierung der juristischen Diskussion“ bezeichnet wird und gewissermaßen, freilich in anderem Zusammenhang (Rechtsstaats- und Demokratieprinzip), zu den Ursprüngen zurückzuführen scheint:[167] Der Verwaltungsrichter „hat nicht mehr nur die Gesetzeskonformität einer Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, er muss vielmehr über die Gesamtheit der Rechte befinden, die eine Privatperson gegenüber der Verwaltung in einem bestimmten Rechtsstreit geltend machen kann.“ Infolgedessen „wird sich in den kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren […] die Rolle der französischen Verwaltungsgerichte radikal ändern. Ihr Schwerpunkt wird sich von der Verteidigung der objektiven Legalität hin zum Schutz individueller Rechte derjenigen verschieben, die man noch vor kurzem ‚Verwaltungsunterworfene [ administrés ]‘ nannte und die es nun als Privatpersonen anzuerkennen gilt.“[168]
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