7. Das Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Praxis, insbesondere zur Rechtsprechung
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Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, wie es um die Beziehungen der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Rechtsprechung steht. Erstere entwickelt sich weiterhin, wie im 19. Jahrhundert, in einer Art Osmose mit der Zweiten, und das Ganze, so sehr es manchmal kritisiert werden mag, scheint doch von erheblicher Anpassungsfähigkeit. Insoweit spielt es keine Rolle, ob das Verwaltungsrecht Richterrecht ist, also im Wesentlichen aus richterrechtlichen Regeln besteht, oder nicht. Es steht in dem Ruf, ursprünglich ein solches gewesen zu sein, und man sagt, dies sei sogar eines seiner Hauptmerkmale, neben seinem Sonderrechtscharakter. In Wirklichkeit ändert die gegenwärtige Diversifizierung der Rechtsquellen gar nichts, war doch die Herkunft der Normen, genauso wie ihre Rechtsnatur, nie ein Definitionselement des Verwaltungsrechts. Natürlich wird die zweigleisige Gerichtsbarkeit herkömmlicherweise mit dem „Sonderrechtscharakter“ gerechtfertigt. Aber der Umstand, dass dieser schwächer wird, ändert nichts am „Bestand des theoretischen Rahmens“.[136] In einer näher bestimmten Reihe von Sachgebieten, die seinen Zuständigkeitsbereich ausmachen, wendet der Verwaltungsrichter, wenn er mit einem Rechtsstreit befasst ist, Regeln an, deren Gesamtheit das Ausgangsmaterial für die Verwaltungsrechtswissenschaft und die mit ihr verbundene Lehre liefert.
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Damit ist die permanente Infragestellung des zweigleisigen Gerichtssystems in keiner Weise aus der Welt,[137] zumal der Bedeutungswandel der Verwaltungsgerichte diese immer mehr in die Nähe der ordentlichen Gerichte rückt und damit, so man will, scheinbar ihrer Existenzberechtigung beraubt. Warum soll es innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung eine gesonderte Verwaltungsjustiz geben?[138] Im Rahmen seiner ausgeweiteten Befugnisse versichert sich der Conseil d’État seiner Legitimität, indem er in mancherlei Hinsicht an seine Gepflogenheiten aus dem 19. Jahrhundert anknüpft. So hat er sich unter der Dritten Republik, auf dem Weg zu einer vollwertigen gerichtlichen Institution, darauf beschränkt, die Rechtslage festzustellen, und es in Abwesenheit gesetzlicher Ermächtigungen vermieden, Rechtsakte umzudeuten oder richterliche Anordnungen gegenüber der Verwaltung zu treffen, was er zuvor noch mit großer Selbstverständlichkeit getan hatte.
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Als Hauptproblem könnte sich eher die Eigenständigkeit der Verwaltungsrechtswissenschaft erweisen.[139] Im zweistimmigen Chor der „richterlichen“ und der „universitären“ Doktrin fällt es Letzterer schwer, den nötigen Abstand zu gewinnen sowie ihr kritisches und innovatorisches Potenzial auszuschöpfen. Dies erklärt auch den Ruf nach einer anderen Verwaltungsrechtswissenschaft, die freilich wegen ihrer Theorielastigkeit gleichfalls umstritten ist: „Die etwa vierzig Jahre umfassende Zeitspanne, die man die Epoche der Theoretiker nennen könnte und die von Hauriou bis Bonnard reicht, ist wahrscheinlich eine vorübergehende historische Phase (vielleicht sogar eine bloße Episode), die damals zur Entfaltung der Disziplin notwendig war, heute aber nicht wiederholbar ist.“[140] Ein derartiger Ausdruck von Bescheidenheit kommt allerdings dem Eingeständnis einer gewissen Unfähigkeit gleich, eine Theorie zu entwerfen, die den tatsächlichen und vermuteten aktuellen Entwicklungen Rechnung trägt. Aber alles in allem, was weiß man schon in dieser Hinsicht?[141] Seit den 1970er Jahren hat man die Zeit des Vichy-Regimes „wiederentdeckt“, ein Extrembeispiel, das Anlass zu beständiger Wachsamkeit gibt: In der Folge eines Gesetzes von 1940, das einen besonderen Status für Juden eingeführt und diese von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen hatte, war es zu Gerichtsverfahren gekommen, in denen sich die Frage stellte, ob jemand Jude sei oder nicht. Es wurden verschiedene Kriterien des „Jüdischseins“ diskutiert und ein „Judenrecht“ gelehrt, als ginge es um irgendein Gebiet des Besonderen Verwaltungsrechts, mit einer von Fall zu Fall weiterentwickelten Dogmatik und in ausgesuchter juristischer Methodenstrenge.[142]
8. Die Verbreitungswege der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Wenn es ein Symbol dafür gibt, wie die richterliche und die akademische Lehre gemeinsam für die Verbreitung der Verwaltungsrechtswissenschaft sorgen, dann ist es sicher die Publikation Grands arrêts de la jurisprudence administrative (GAJA).[143] Auf derselben Linie liegen die bei Dalloz erschienenen Entscheidungssammlungen Les grands avis du Conseil d’État (3. Aufl., 2008), Les grands arrêts du droit de la décentralisation (2. Aufl., 2001) und Les grands arrêts du contentieux administratif (2007). Darüber hinaus verfügt der Conseil d’État über weitere Publikationsorgane für seine Rechtsprechung: neben dem seit 1821 erscheinenden Recueil Lebon [144] insbesondere die seit 1947 von der Documentation française veröffentlichte Zeitschrift Études et documents . Letztere bietet heute den Rahmen für den öffentlichen Jahresbericht des Conseil , der sich in zwei Teile gliedert: Der erste zieht eine Bilanz der Rechtsprechungs- und Verwaltungstätigkeiten. Der zweite ist allgemeinen Überlegungen zu einem spezifischen Thema gewidmet (z.B. „Rechtssicherheit und Komplexität des Rechts“, 2006; „Die französische Verwaltung und die Europäische Union: Einflüsse? Strategien?“, 2007; „Der Vertrag als Handlungs- und Rechtssetzungsinstrument der Verwaltung“, 2008). Es werden noch zahlreiche weitere Berichte des Conseil d’État im erwähnten Verlag veröffentlicht, der eine dem Premierminister nachgeordnete, staatliche Stelle ist und im öffentlichen Interesse Dokumentations- und Informationsaufgaben wahrnimmt, wie die Direction des Journaux Officiels .[145]
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Darüber hinaus mangelt es nicht an verwaltungsrechtlichen Fachzeitschriften, in denen sich Praktiker wie Akademiker ausgiebig zu Wort melden.[146] Gleiches gilt für die großen juristischen Fachverlage, wie Dalloz, Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence (LGDJ), Presses Universitaires de France (PUF), Montchrestien und LexisNexis Litec. Dazu kommen noch die kleineren, spezialisierteren Verlage. So gibt es beispielsweise eine Vielzahl spezialisierter Praktikerzeitschriften und Fachbuchreihen zur Regional- und Lokalverwaltung, die häufig von akademischer Seite etwas verkannt, der entsprechenden Beamtenschaft aber durchaus geläufig sind.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen› § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich› III. Die universitäre Ausbildung im Verwaltungsrecht heute
III. Die universitäre Ausbildung im Verwaltungsrecht heute
1. Welchen Stellenwert hat sie? Welche Lehrveranstaltungen und welche Prüfungen gibt es?
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Die heutige verwaltungsrechtliche Ausbildung muss im Kontext des Systems Licence-Master-Doctorat (LMD) gesehen werden, das in Frankreich Anfang des 21. Jahrhunderts eingeführt wurde. Während der Licence gibt es in der Regel eine erste Einführung im zweiten Studienjahr durch eine zweisemestrige Vorlesung im Verwaltungsrecht (z.B. mit zweimal 36 Vorlesungsstunden), die von etwa gleich dimensionierten Fallbesprechungen ( travaux dirigés ) begleitet wird.[147] Jedes Semester wird mit einer Klausur (meist dreistündig) abgeschlossen; in den travaux dirigé s gilt es, fortlaufend Leistungsnachweise zu erbringen. Dem geht im ersten Studienjahr eine Vorlesung im Verfassungsrecht voraus.[148] Als Grundlagenfach wird das Verwaltungsrecht an praktisch allen juristischen Fakultäten gelehrt, gleichberechtigt mit dem Zivilrecht. Aufgrund von Zeitknappheit scheint jedoch der Bereich der Verwaltungsressourcen (personeller und sachlicher Natur) oft ausgespart zu werden. Letzteres ist dafür im dritten Studienjahr oder während des Master Gegenstand einsemestriger Lehrveranstaltungen (gefolgt von einem schriftlichen oder mündlichen Leistungsnachweis). Ansonsten bleibt nur, an die bereits erwähnte Explosion der Fachgebiete zu erinnern.[149] Ein jedes kann potenzieller Gegenstand einer einsemestrigen Lehrveranstaltung oder Schwerpunktbereich eines Master 2 (M2) sein.[150] Was Letzteren anbelangt, so ist zwischen M2 professionnel , der direkt in einen Beruf mündet oder auf spezifische Auswahlverfahren ( concours ) vorbereitet, und M2 recherche zu unterscheiden, dem üblichen Weg zu einer Promotion oder universitären Laufbahn. Während Ersterer sich mehr oder weniger gleichbleibender Teilnehmerzahlen erfreut, kämpfen die M2 recherche um ihr Überleben und damit um die Zukunft der Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern.[151] Letztlich ist aber in allen Studiengängen eine mehr oder weniger zunehmende Praxisorientierung zu verzeichnen.
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