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Wenn die Verwaltungsrechtswissenschaft diejenigen Wissenschaften ignoriert, welche die Umsetzung eines solchen Programms implizieren, so zahlen es ihr diese mit gleicher Münze heim. Allzu oft stimmten Letztere darin überein, dass sie die Verwaltungsrechtswissenschaft als zu vernachlässigende Größe ansehen durften, in Missachtung der von Pierre Legendre 1968 wiederholt vorgetragenen Warnung: „Gegenüber der Verwaltungswissenschaft stellt das Verwaltungsrecht gleichsam ein Widerstandsmoment dar; insofern ist es ein essenzielles Proprium, ein prägendes und unumgängliches Wesensmerkmal unserer nationalen Verwaltungsordnung.“[114] Dementsprechend kann man in einem Buch über den tatsächlichen Stellenwert des Rechts in den Theorien zum öffentlichen Handeln lesen, dass die Frage zwar nicht gänzlich unausgesprochen bleibt, aber dennoch „eine gewisse Vertraulichkeit ( confidentialité )“ behält.[115] Zweifellos trifft dies nicht ganz zu, und sei es nur, weil der Conseil d’État weiterhin seinen Platz im Zentrum eines Netzwerks innehat, von wo aus er nicht nur den Rechtsschutz kontrolliert. Nichts entzieht sich seinem Zugriff: die Verwaltung, das Verwaltungsrecht, das Allgemeininteresse in allen Erscheinungsformen.
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Was Legendre erfasst hatte, entwickelte sich allerdings zu einem tatsächlichen Problem: das „Widerstandsmoment“. Ist das Verwaltungsrecht nicht ein Hindernis für die Modernisierung der Verwaltung, die zu einem vordringlichen politischen Ziel geworden ist? Anders formuliert, „kann [diese Modernisierung] an der Reflexion über das Verwaltungsrecht und über seine potenzielle Rolle als Bremse oder Motor des Wandels der Verwaltungspraxis spurlos vorübergehen?“[116] Natürlich war dies als rhetorische Frage gemeint: Das Verwaltungsrecht ist eine Bremse, umso mehr, als es „vom Recht in den Büchern zum Recht in der Praxis ein weiter Weg“ ist.[117] Sind die Juristen also nicht nur zu wenige, sondern auch noch unzureichend ausgebildet? Die Frage ist gleichzeitig ein Aufruf zur Erneuerung des Rechts, seiner Konzeption genauso wie seiner Lehre. Diejenigen Öffentlichrechtler, die den Verwaltungswissenschaften aufgeschlossen gegenüberstehen, sind denn auch die schärfsten Kritiker einer auf „technischen Positivismus“ reduzierten „juristischen Dogmatik“. Sie sind es, die sich besonders damit auseinandersetzen, wie die künftige „Verwaltungsrechtslehre“ aussehen soll.[118]
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Der Anspruch, eine „Verwaltungswissenschaft“ zu begründen, die ihren Forschungsgegenstand festlegt (das Objekt „Verwaltung“),[119] geht einher mit der Forderung, „eine wegen der Hypertrophie der Dogmatik zweitrangig gewordene Wissenschaft vom Verwaltungsrecht zu rehabilitieren“.[120] Diese Wissenschaft müsse einen rechtsexternen Standpunkt einnehmen. Sie sei nicht auf dem Feld der „Rechtsdogmatik“ angesiedelt, die Teil der Rechtsproduktion ist und sich in einem „technischen Positivismus“ erschöpft. Sie wird vielmehr als Arbeit über das Recht und nicht als Arbeit im Recht verstanden. Gewiss gibt es, zurückhaltend ausgedrückt, insofern noch Diskussionsbedarf.[121] Wie dem auch sei, eines steht fest: Was wir als „Verwaltungsrechtswissenschaft“ bezeichnet haben, stimmt mit dem überein, was in kritischer Absicht „Rechtsdogmatik“ oder „Rechtslehre“ genannt wird. Und die Bezeichnung „Verwaltungsrechtswissenschaft“ wird dann wiederum für etwas ganz anderes reserviert. Eisenmann kann als Beleg dafür herhalten, freilich mit der Ergänzung, dass, wo er eine juristische Theorie des Verwaltungsrechts ausarbeiten wollte, die Verwaltungswissenschaften in die verschiedensten Wissensgebiete ausgreifen.[122]
6. Die institutionelle Festigung der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Duguit und Hauriou konnten ihre herausragende Rolle nur deshalb erlangen, weil das Leitbild des Zivilrechtlers an den juristischen Fakultäten an Strahlkraft eingebüßt hatte. Davon zeugt die Reform der Professorenrekrutierung von 1896, die für das nationale Zulassungsverfahren vier Spezialgebiete vorsah: Privatrecht, öffentliches Recht, Rechtsgeschichte und Wirtschaft. Zum Kreis der Verwaltungsrichter kam so ein universitärer Zirkel hinzu, der einige herausragende Persönlichkeiten hervorbrachte. Wie ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert machten auch diese Hochschullehrer häufig aus ihrer Bewunderung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit keinen Hehl, in einer Mischung aus Faszination und „Gerichtsgläubigkeit“. Aber sie wollten mehr sein als bloße Wissensvermittler. „Damit nehmen also die beiden gegensätzlichen Figuren des Theoretikers und des Praktikers Gestalt an“:[123] „Da ja die Theorie die Praxis informieren und anleiten muss, streben die eifrigen Kommentatoren der höchstrichterlichen Rechtsprechung nach einer inoffiziellen Funktion, die ihnen gleichwohl beträchtlichen Einfluss sichert: Berater der Richter.“[124]
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Das Ergebnis war ein „zweistimmiger Chor“, der das Hauptinstrument der institutionellen Verfestigung der Verwaltungsrechtswissenschaft im 20. Jahrhundert war. Einige Auseinandersetzungen erlangten bleibende Berühmtheit, wie „der Streit zwischen Dogmatismus und Empirismus“ Anfang der 1950er Jahre.[125] Auf Seiten des Conseil d’État hob Bernard Chenot die Notwendigkeit eines richterlichen Empirismus hervor, der sich von jeder Verbeugung vor theoretischen Konstruktionen freimachen müsse.[126] Seitens der Universität verfasste Jean Rivero eine „Apologie der Systembauer“.[127] Das Konzept des service public war Ausgangspunkt der Diskussion. Da es nicht als alleiniges Kriterium der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit angesehen werden konnte, blieb die altbekannte Abgrenzungsfrage weiter offen, ohne Aussicht auf eine überzeugende Antwort, und so war es letztlich wieder die Natur des Verwaltungsrechts selbst, die zur Debatte stand. Georges Vedels Ansicht haben wir bereits vorgestellt.[128] Ihr Siegeszug ging mit der Aufgabe der Vorstellung einher, dass es ein einziges Kompetenzkriterium geben müsse. Dies hat allerdings nichts daran geändert, dass weiterhin von einer Krise gesprochen wurde. „Seit über dreißig Jahren“, so konnte man vor mehr als zwanzig Jahren lesen,[129] „ist in der Literatur ‚Krise‘ die bevorzugte Beschreibung für den Zustand des Verwaltungsrechts, so dass man zu schreiben versucht sein könnte, die Krise sei die Ausdrucksform des Verwaltungsrechts.“ Da die Krisenrhetorik unterschiedslos auf das positive Recht wie auf die Rechtswissenschaft zu zielen scheint, drängt sich die Frage auf, wer genau sich eigentlich in der Krise befindet. Ist es nicht zuvörderst „eine intellektuelle Gemeinde, die es nicht mehr schafft, zu überzeugenden Erkenntnissen zu gelangen“?[130]
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Allen Krisendiskussionen zum Trotz scheint es um die Verwaltungsrechtswissenschaft, wenn auch mit einigen Höhen und Tiefen, ganz gut bestellt, jedenfalls wenn man dem Conseil d’État Glauben schenkt. Dessen Mitglieder selbst feiern die „Erneuerung des Verwaltungsprozesses innerhalb eines Zeitraums, der mit dem Gesetz vom 8. Februar 1995 begann“:[131] „Solchermaßen vom Gesetzgeber mit neuen und wirksameren Instrumenten ausgestattet, sah sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in gewisser Weise gestärkt.“[132] Dazu zeigt sich nun auf Seiten der Richter ein wahrhaft pädagogisches Anliegen: „Symptomatisch für diese neue Haltung sind die Urteile, die über den bloßen Streitgegenstand hinaus in vorbildlicher Weise den rechtlichen Rahmen einer Streitsache darlegen.“[133] Wo ihm vormals der elliptische Charakter seiner Urteile vorgehalten wurde, geriert sich der Conseil d’État im universitären Verständnis jetzt als „Systembauer“, auf die Gefahr hin, dass er in seinen allzu breiten Ausführungen Widersprüchlichkeiten zeigt, die ansonsten unbemerkt geblieben wären.[134] Wie immer ist der Richter am Conseil d’État guter Dinge, und er muss nur noch René Chapus mit der Feststellung zitieren, dass „in Frankreich heute nichts moderner [ist] als der Conseil d’État.“[135] Letzteres gilt gerade auch im Rahmen seiner gleichfalls „produktiven“ beratenden Funktion.
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