190
Beispiel:
Der Beamte B klagt gegen die dienstliche Weisung eines Vorgesetzten. Stellt diese dienstliche Weisung (wie meist) keinen Verwaltungsakt dar (vgl Rn 113, 233 ff), so ist zwar eine Anfechtungsklage gem. § 42 nicht statthaft. Es wäre jedoch fehlerhaft, jede Klagemöglichkeit zu verneinen. Vielmehr muss hier geprüft werden, ob nicht möglicherweise eine auf die Rücknahme der Weisung gerichtete allgemeine Leistungsklage oder evtl. eine Feststellungsklage statthaft ist, die dann allerdings jeweils noch wegen des Fehlens spezifischer Zulässigkeitsvoraussetzungen scheitern kann.
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Bei der Reihenfolge der Prüfungmöglicher Klagearten empfiehlt es sich, zunächst zu untersuchen, ob das prozessuale Begehren mittels einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklageoder ggf (insbesondere bei Erledigung des Verwaltungsakts) mittels einer – der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage systematisch eng verwandten – Fortsetzungsfeststellungsklagein direkter oder analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 S. 4 verfolgt werden kann. Soweit diese in Bezug auf Verwaltungsakte eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten nicht greifen, ist in einem anschließenden Schritt zu klären, ob andere Verfahrensarten einschlägig sind. Dabei ist hier wegen § 43 Abs. 2 S. 1 in der Regel erst zu prüfen, ob Leistungs- oder Gestaltungsklagenin Betracht kommen, ehe die Zulässigkeit einer allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklagegem. § 43 erörtert wird. Vermag keine der in der VwGO geregelten Klagearten den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, so fordert § 40 zur Sicherung des Rechtsschutzes äußerstenfalls die Zulassung atypischer, in der VwGO nicht ausdrücklich geregelter Klagearten.
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Beispiel:
So ist etwa dann, wenn man – entgegen der hier vertretenen Ansicht (vgl Rn 246 ff, 370, 455) – davon ausgeht, dass für sog. kommunale Verfassungsorganstreitigkeiten (etwa zwischen Bürgermeister und Gemeinderat hinsichtlich der Abgrenzung ihrer Organkompetenzen) weder ein Verfahren nach § 42 noch die allgemeine Leistungsklage noch die allgemeine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage statthaft sind, zu prüfen, ob hier eine atypische (Aufhebungs- oder Feststellungs-)Klage (Klage sui generis) zulässig ist.
[1]
Zum System der Klagearten im Verwaltungsprozess s. Hufen , AD LEGENDUM 2017, 96 ff.
§ 5 Die Anfechtungsklage
Inhaltsverzeichnis
I. Die Statthaftigkeit der Anfechtungsklage
II. Der Verwaltungsakt als Gegenstand der Anfechtungsklage
III. Die Nichterledigung des angefochtenen Verwaltungsakts
IV. Die prozessuale Geltendmachung des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs sowie sonstiger, die Aufhebung des Verwaltungsakts voraussetzender Leistungsansprüche
V. Die Prüfung der Zulässigkeit der Anfechtungsklage
193-
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Ausgangsfälle:
Fall 1:Die Stadt S hat einen gemeindeeigenen Saal ähnlich wie in entsprechenden anderen Fällen auch dem Gemeindeeinwohner E vermietet, der hier einen Lichtbildvortrag hielt. Als E den vereinbarten Mietpreis nicht zahlt, ergeht ihm gegenüber ein mit einer Rechtsmittelbelehrung versehener Leistungsbescheid, in welchem er zur Zahlung verpflichtet wird. Mit welcher Klageart kann E hiergegen vorgehen? Rn 275
Fall 2:Wegen gesundheitsschädigender Wirkungen verbot das Innenministerium mit einer im Gesetz- und Verordnungsblatt bekannt gemachten Anordnung den Verkauf von Lebensmitteln, die in einem bestimmten Verfahren hergestellt worden sind. Kann sich ein Produzent P, der ein solches Verfahren bisher benutzte, mit einer Anfechtungsklage gegen das Verbot zur Wehr setzen?
Abwandlung:Was gälte jeweils bei Bekanntmachung in einem Ministerialblatt oder bei Einzelbekanntmachung gegenüber P? Rn 276
Fall 3:Die zuständige Polizeibehörde ordnet zum Zwecke der Gefahrenabwehr die Durchsuchung der Wohnräume des C an und beschlagnahmt einen dem C gehörenden Gegenstand. Nach erfolgloser Durchführung eines Vorverfahrens ficht C die Durchsuchung und die Beschlagnahme an, wobei er zugleich auf Herausgabe des beschlagnahmten Gegenstands klagt. Welche Klageart ist hier einschlägig? Rn 277
§ 5 Die Anfechtungsklage› I. Die Statthaftigkeit der Anfechtungsklage
I. Die Statthaftigkeit der Anfechtungsklage
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Mit der Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 wird die gerichtliche Aufhebung eines belastenden Verwaltungsakts begehrt (s. zur Anfechtungsklage auch Ehlers , Jura 2004, 30 ff und 176 ff). Die Anfechtungsklage ist damit eine auf unmittelbare gerichtliche Umgestaltung der Rechtslage gerichtete prozessuale Gestaltungsklage, mit welcher der Kläger einen grundrechtlich fundierten materiellrechtlichen Anspruch auf verwaltungsbehördliche Aufhebung (Rücknahme) eines ihn in seinen Rechten verletzenden Verwaltungsaktsgeltend macht. Dieser Anspruch ist ein Unterfall des öffentlich-rechtlichen Beseitigungsanspruchs (Folgenbeseitigungsanspruchs)[1]. Mit der Anfechtungsklage wird neben der Aufhebung des Verwaltungsakts zugleich auch die Feststellung einer durch ihn begründeten subjektiven Rechtsverletzung begehrt (Rn 660). Soweit der Verwaltungsakt noch nicht unanfechtbar (formell bestandskräftig, dazu Rn 665) ist, verdrängt die Anfechtungsklage als die speziellere (und rechtsschutzintensivere) Klageart grundsätzlich die auf seine verwaltungsbehördliche Aufhebung gerichtete Verpflichtungsklage (s. auch Rn 302 ff). Zur Umdeutung einer auf Rücknahme eines Verwaltungsakts gerichteten Klage in eine Anfechtungsklage s. aber oben Rn 47.
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Wie sich § 113 Abs. 1 S. 1 entnehmen lässt („ Soweitder Verwaltungsakt rechtswidrig […] ist“), kann die Anfechtungsklage auch auf die teilweise Aufhebungeines Verwaltungsakts gerichtet sein.
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Beispiel:
B ist der Auffassung, die ihm von der Gemeinde G in einem Gebührenbescheid abverlangte Gebühr sei von der Höhe her mit dem KAG (Kommunalabgabengesetz) nicht vereinbar. Hier wird er auf Aufhebung des Gebührenbescheids nur insoweit klagen, als dieser nicht durch eine gesetzliche Grundlage gedeckt ist. Nur so vermeidet er ein mit Kostennachteilen verbundenes (§ 155 Abs. 1) teilweises Unterliegen.
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Voraussetzung für die Statthaftigkeit einer Anfechtungsklage ist das Vorliegen eines Verwaltungsakts (dazu II), der sich noch nicht erledigt hat (dazu III). Das Vorliegen eines Verwaltungsakts stellt eine Zugangsvoraussetzung(zum Begriff Rn 75) dar, dh dieser muss bereits bei Erhebung der Klage gegeben sein; sein Fehlen kann nicht durch einen nachträglichen Erlass geheilt werden ( Kopp/Schenke-W. Schenke , § 74, Rn 4a mwN)[2]. Ausnahmsweise kann sogar gegenüber einem nicht erledigten Verwaltungsakt eine Anfechtungsklage unstatthaft sein, nämlich wenn er eine dem § 44aunterfallende behördliche Verfahrenshandlungdarstellt (s. Rn 245, 613).
§ 5 Die Anfechtungsklage› II. Der Verwaltungsakt als Gegenstand der Anfechtungsklage
II. Der Verwaltungsakt als Gegenstand der Anfechtungsklage
§ 5 Die Anfechtungsklage› II. Der Verwaltungsakt als Gegenstand der Anfechtungsklage › 1. Das tatsächliche Vorliegen des Verwaltungsakts
1. Das tatsächliche Vorliegen des Verwaltungsakts
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§ 42 verlangt nach seinem eindeutigen Wortlaut das tatsächliche Vorliegen eines Verwaltungsakts. Die bloße Behauptung seiner Existenz genügt nicht[3] (vgl oben Rn 73). Der Gesetzgeber vermag aber das Vorliegen eines Verwaltungsakts zu fingieren (fingierter oder fiktiver Verwaltungsakt)[4]. Als rechtlich existent zu behandeln ist deshalb auch eine fingierte Genehmigung (so zutreffend Hufen , § 14, Rn 10). Von einer solchen gehen vielfach neuere Bauordnungen im Interesse der Beschleunigung und Vereinfachung des Baugenehmigungsverfahrens aus (vgl hierzu mwN Kopp/Schenke-W. Schenke , Anh. § 42, Rn 24). ZB gilt uU eine Baugenehmigung als erteilt, wenn über einen Bauantrag nicht innerhalb einer bestimmten Frist entschieden worden ist (vgl § 65 Abs. 4 RhPfLBO; s. zum verschiedentlich vorgesehenen Genehmigungsfreistellungsverfahren unten Rn 558). Zum Erlass von Verwaltungsakten durch automatische Einrichtungen s. Rn 207.
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