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Der Staatsrat befürchtete, dass der Vorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention allgemein zur Rechtsunsicherheit beitragen könnte. Tatsächlich werden gesetzliche Vorschriften auf der Grundlage von Art. 94 Grondwet „nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen völkerrechtlicher Organisationen nicht vereinbar ist.“ Bezüglich der EMRK stellte sich die Frage, ob die niederländischen Gerichte diese Bestimmung heranziehen dürfen, um gesetzliche Vorschriften sogar dann außer Acht zu lassen, wenn diese mit Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang gebracht werden können. Während einige Autoren die Ansicht vertreten, dass Art. 94 Grondwet lediglich eine enge Auslegung der Konvention gestattet (wodurch das niederländische Recht nicht zur Anwendung kommt), bevorzugen andere diesbezüglich einen allgemeinen Vorrang der EMRK. Mit anderen Worten: Immer wenn das niederländische Recht dem Anschein nach im Widerspruch zur Konvention steht, sollte dieser Konflikt zu Gunsten des jeweiligen Klägers entschieden werden.[127]
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Abgesehen von diesen speziellen Fragen zu Art. 93 und 94 Grondwet kann zusammenfassend festgestellt werden, dass diese beiden Bestimmungen zumindest anwendbar sind und dass die Geltung der EMRK aus diesem Grunde in der niederländischen Verfassung nicht besonders geregelt ist. Wie jeder Vertrag unterliegt auch die Konvention den allgemeinen Regelungen zur Anwendung des Völkerrechts in der Rechtsordnung der Niederlande. Mit diesem Argument gelang es der Regierung im Jahre 1953 letzten Endes, das Parlament davon zu überzeugen, die Konvention zum Vorteil der Niederlande zu ratifizieren. Sowohl die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Niederlande zur Förderung der internationalen Rechtsordnung als auch die Annahme, dass sich die Konvention in den Niederlanden höchstwahrscheinlich kaum auswirken wird, ermöglichte eine nach Ansicht sowohl der Regierung als auch des Parlaments verfassungsgemäße Ratifikation der EMRK.
3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das niederländische Verfassungsrecht
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In der Loizidou- Entscheidung bezeichnete der EGMR die EMRK als das „Verfassungsinstrument der öffentlichen Ordnung in Europa“[128]. In den Niederlanden gilt die Konvention allgemein als ein fester Bestandteil der „Verfassung“. Die Gerichte sind gemäß Art. 120 Grondwet nicht befugt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. Die dadurch entstehende Lücke im Rechtsschutz konnte durch die EMRK oftmals geschlossen werden. In diesem Zusammenhang kommt man schnell zu der Auffassung, dass die EMRK für den Schutz der Menschenrechte wichtiger ist als die niederländische Verfassung.
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In einer Vielzahl von Entscheidungen hat der EGMR die Niederlande gezwungen, ihre gesetzlichen Vorschriften entsprechend den Bestimmungen der Konvention zu ändern. Die Benthem- Entscheidung war in dieser Hinsicht von größter Bedeutung, da sie die Niederlande zur Änderung des Rechtsschutzes im Verwaltungsverfahren zwang.[129] Ursprünglich war eine Anrufung der Krone nur möglich, nachdem der Verwaltungssenat des Staatsrates ein Urteil erlassen hatte. In der Benthem- Entscheidung vertrat der Gerichtshof jedoch die Auffassung, dass die Krone nicht als ein „unabhängiges und unparteiisches Gericht“ im Sinne von Art. 6 der Konvention angesehen werden könne. Infolge dieser Entscheidung verschwand nicht nur eine seit 125 Jahren bestehende Instanz im Verwaltungsverfahren, sondern wurde auch die Regierung zur vollständigen Umgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und zur Einrichtung eines unabhängigen Berufungsgerichts gezwungen.
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In neuerer Zeit wurde in der so genannten Betuweroute- Entscheidung sogar die Unabhängigkeit des Staatsrats in Frage gestellt.[130] Die Streitfrage dieses Falles betraf die doppelte Rolle des Staatsrats im niederländischen Verfassungsrecht. Während der Staatsrat gemäß der Verfassung die Regierung bei der Ausarbeitung neuer Gesetzentwürfe maßgeblich unterstützen soll, fungiert ein Senat des Staatsrats, nämlich der Verwaltungsrechtssenat, nach wie vor als Berufungsinstanz im Verwaltungsverfahren. Von Klägerseite wurde vorgebracht, dass diese doppelte Rolle des Staatsrats eine Verletzung von Art. 6 EMRK darstelle. Das Straßburger Gericht kam tatsächlich zu dem Ergebnis, dass Zweifel an der Unparteilichkeit des Rates bestehen. Dennoch wurde entschieden, dass die allgemeine Beteiligung des Staatsrats an der Gesetzgebung sehr wohl von konkreten Entscheidungen des Staatsrats im Verwaltungsverfahren getrennt werden könne und somit keine Verletzung von Art. 6 EMRK vorliegt.
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Da die niederländische Verfassung keine Regelungen bezüglich des Prozessrechts enthält, wurde Art. 6 EMRK tatsächlich zur wichtigsten Rechtsquelle für einige Grundrechte. Das bestärkte die Auffassung, dass die niederländische Verfassung zusammen mit der EMRK einen so genannten „Verfassungsverbund“ bildet.[131] Die Kostovski- Entscheidung setzt sich beispielsweise mit der Frage auseinander, ob die Vernehmung anonymer Zeugen im Strafverfahren eine Verletzung von Art. 6 EMRK darstellt. Der Gerichtshof entschied, dass eine Verletzung der EMRK vorliegt,[132] woraufhin die Niederlande ein neues Gesetz zum Schutz von Zeugen in Strafverfahren verabschieden mussten.
Erster Teil Offene Staatlichkeit› § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande› IV. Zusammenfassung
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Die niederländische Verfassung ist eine der völkerrechtsfreundlichsten Verfassungen in Europa. Diese Offenheit ist auf die Tradition der Niederlande als kleiner aber bedeutsamer Handelsstaat zurückzuführen, der nur über unzureichende Mittel zur Verteidigung seiner Sicherheit verfügt. Dies erklärt die Tatsache, dass die Niederlande seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren bis heute das Europäische Gemeinschaftsrecht sowie die auf der Europäischen Menschenrechtskonvention basierende Rechtsprechung bereitwillig annehmen. In der Grundsatzentscheidung Van Gend & Loos aus dem Jahr 1963 hatte die niederländische Regierung gegen die unmittelbare Wirkung der in Frage stehenden Vertragsbestimmung protestiert. Die ablehnende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wurde dennoch wie in allen nachfolgenden Fällen ohne Widerwillen anerkannt.
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Obwohl die Art. 93 und 94 Grondwet sowohl die unmittelbare Anwendbarkeit als auch den Vorrang von unmittelbar wirksamen Vertragsbestimmungen (einschließlich denen der EMRK) und von Beschlüssen internationaler Organisationen regeln, gelten sie nach allgemeiner Auffassung nicht für die Stellung des Europarechts in der niederländischen Rechtsordnung. Infolge von neueren Entscheidungen der niederländischen Gerichte wurde sogar über die Anwendbarkeit von Art. 93 und 94 Grondwet in anderen Bereichen des Völkerrechts wie beispielsweise dem internationalen Umweltrecht diskutiert.
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Dagegen fand eine verfassungsrechtliche Diskussion zum Europarecht praktisch nicht statt. Während der Ratifikationsverfahren konzentrierte sich das Parlament in den Debatten auf inhaltliche Streitfragen und auf die von der Regierung durchzuführenden Maßnahmen und weniger auf verfassungsrechtliche Probleme. Jedes Mal, wenn verfassungsrechtliche Fragen auftraten, entschied man, dass die europäischen Verträge im Ergebnis nicht von den Verfassungsbestimmungen abweichen, so dass keine parlamentarische Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit erforderlich war.
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Die Möglichkeit, gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet von Verfassungsbestimmungen abzuweichen, ist in der Tat eine Besonderheit des niederländischen Verfassungsrechts. Diese Bestimmung findet jedoch aufgrund der allgemeinen Offenheit der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht nur in Ausnahmefällen Anwendung.
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