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Auffallend ist, dass ein gleiches Verfahren nicht für Entscheidungen im Rahmen von Titel V des EU-Vertrages (Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) eingeführt wurde, ungeachtet der Tatsache, dass diese Entscheidungen ebenfalls Bindungswirkung für das Königreich der Niederlande haben können. Zudem ist die Mitwirkung des Europäischen Parlaments in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sogar noch schwächer als in anderen Bereichen. Zur Begründung wurde damals vorgebracht, dass Entscheidungen im Rahmen der GASP lediglich „politische“ Bindungswirkung haben und nicht mit der „Gesetzgebung“ in den anderen Bereichen verglichen werden können. Während dies bereits zur Zeit der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages fragwürdig war, würde die Entwicklung der europäischen Rechtsordnung zumindest heute eine Gleichbehandlung der Entscheidungen im Rahmen der GASP erfordern.[116]
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Abgesehen von den Debatten über die einzelnen Vorschläge findet jedes Jahr ein allgemeiner Meinungsaustausch zwischen Regierung und Parlament auf der Grundlage eines von der Regierung „Zur Lage der Union“ genannten Berichts statt. Die Rechtsgrundlage für diese Berichte bilden womöglich die originären Zustimmungsgesetze zu den Verträgen zur Gründung der EWG und zur Gründung der Euratom aus dem Jahre 1957.[117] Die Tatsache, dass das Parlament aus zwei Kammern besteht, stellt jedoch ein ernsthaftes Problem für dessen Leistungsfähigkeit dar. Die Erste Kammer debattiert ausschließlich Fragen, welche bereits von der Zweiten Kammer entschieden wurden. Die Beeinflussung der europäischen Gesetzgebung wird dadurch erschwert, wie z.B. bezüglich der Planung des Zustimmungsverfahrens. Gemeinsame Sitzungen der Ersten und der Zweiten Kammer werden durch die Verfassung nicht ausgeschlossen (und sind in bestimmten Situationen tatsächlich vorgesehen) und könnten eine Möglichkeit zur Beschleunigung der Beratungen über die europäische Gesetzgebung bieten. Es könnte zumindest dadurch ein Anfang gemacht werden, dass die jährliche Debatte zur Lage der Nation in einer gemeinsamen Parlamentssitzung abgehalten wird.
Erster Teil Offene Staatlichkeit› § 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande› III. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung der Niederlande
III. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung der Niederlande
1. Die Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im niederländischen Recht
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Die Zustimmung zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihrem Ersten Zusatzprotokoll erfolgte mit Gesetz vom 28. Juli 1954. Am 31. August 1954 trat sie in den Niederlanden in Kraft. Seit dem 31. Dezember 1955 gilt die Konvention auch für die Niederländischen Antillen sowie seit 1986 für Aruba.[118] Während weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die auf Grundlage der EMRK geschaffene Rechtsordnung nicht mit der der Europäischen Gemeinschaften vergleichbar ist, wird darüber gestritten, inwieweit sich die Rechtsordnung der EMRK von dem allgemeinen Völkerrecht unterscheidet. In den Niederlanden vertreten einige Autoren die Ansicht, dass die EMRK eine „eigenständige Rechtsordnung“ bilde, hauptsächlich weil der umfassende Durchsetzungsmechanismus mit einem eigenständigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Verbindung zwischen Primär- und Sekundärnormen hergestellt hat.[119] Diese Ansicht wurde in der Tat durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt: „Im Unterschied zu völkerrechtlichen Verträgen der klassischen Art enthält die Konvention mehr als nur gegenseitige Verpflichtungen der vertragsschließenden Staaten. Sie schafft objektive Verpflichtungen, die über die Vielzahl gegenseitiger, zwischenstaatlicher Verträge hinausgehen, und die nach dem Wortlaut der Präambel von der ‚kollektiven Garantie‘ profitieren. Gemäß Art. 24 ist es den Vertragsstaaten gestattet, auf die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu bestehen, ohne zuvor ein eigenes Interesse anzuführen, das zum Beispiel daher rührt, dass die von ihnen beanstandete Maßnahme einen ihrer Staatsbürger benachteiligt.“[120]
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Im Allgemeinen wird die Europäische Menschenrechtskonvention – wenngleich sie eine wichtige Ergänzung zur niederländischen Verfassung bildet – als ein gewöhnlicher Vertrag angesehen, dem die besonderen Merkmale der Verträge über die Europäischen Gemeinschaften fehlen. In der Tat herrschte bereits während des Ratifikationsverfahrens allgemein die Ansicht, dass die Konvention keine wesentliche Bedeutung für die Niederlande haben würde, da der niederländische Menschenrechtsschutz dem internationalen Maßstab schon entspricht.[121] Seit Inkrafttreten der Menschenrechtskonvention stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dennoch in fünfzig Fällen einen Verstoß der Niederlande gegen die Konvention fest, was im Durchschnitt einen Fall pro Jahr ausmacht. Im Jahr 2003 gingen beim Menschengerichtshof 451 Klagen gegen die Niederlande ein, von denen allerdings 278 als unzulässig zurückgewiesen wurden.[122]
2. Das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zum niederländischen Verfassungsrecht
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Im Gegensatz zur Debatte über die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die niederländische Rechtsordnung hat die Europäische Menschenrechtskonvention nicht die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 93 und 94 Grondwet aufgeworfen. Sowohl die EMRK als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden nach der herrschenden Ansicht auf der Grundlage dieser Verfassungsbestimmungen Eingang in die niederländische Rechtsordnung. Aufgrund des Wortlauts von Art. 93 Grondwet , nach dem „Beschlüsse völkerrechtlicher Organisationen“ – neben Verträgen – Verbindlichkeit nach ihrer Veröffentlichung erlangen, vertreten einige Autoren die Ansicht, dass aufgrund von Art. 93 Grondwet auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die niederländische Rechtsordnung übertragen werden könne.[123] Andere Autoren weisen darauf hin, dass diese Ansicht in Bezug auf Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs, die nicht an die Niederlande gerichtet sind, problematisch sei. Weil diese Entscheidungen für die Niederlande formell nicht rechtsverbindlich seien, könne die niederländische Verfassung diese auch nicht auf der Grundlage von Art. 93 Grondwet mit einer solchen Bindungswirkung versehen. Vertretbar ist zudem, dass diese Urteile nicht in den Niederlanden veröffentlicht werden und somit die Voraussetzungen des Art. 93 Grondwet nicht erfüllt sind.[124]
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Die Lösung des Problems liegt darin anzuerkennen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bestimmungen der Konvention auslegt und diese somit einen wesentlichen Bestandteil der Konvention bildet. Demnach gilt die Straßburger Rechtsprechung auf der Grundlage von Art. 93 in der niederländischen Rechtsordnung.[125]
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Dies gilt gemäß Art. 93 Grondwet jedoch nur für Bestimmungen, die „ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“. Im Jahre 1953 war für die Regierung nicht absehbar, ob alle Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unmittelbar wirksam sein würden. Im Hinblick auf die von den Gerichten in der Praxis zu beachtenden Auswirkungen legte insbesondere der Justizminister Wert auf die Feststellung, dass die Mitgliedstaaten aufgrund von den mit der Konvention eingegangenen Verpflichtungen sicherstellen müssen, dass ihre Gesetze mit den Bestimmungen der Konvention übereinstimmen. Dennoch erklärte schließlich die Regierung, dass die unmittelbare Wirksamkeit von Bestimmungen von deren Wortlaut abhänge.[126] Auch der Staatsrat problematisierte die Tatsache, dass die nationalen Gerichte die Frage entscheiden müssen, ob etwas nach dem Wortlaut der Konvention „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“. Diese Entscheidung falle in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers und der Regierung und würde daher die Zuständigkeitsgrenzen verwischen.
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