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Damit ist jedoch noch kein Kriterium zur Beurteilung möglicher Verfassungsverstöße gegeben.[94] Liegt möglicherweise ein Verfassungsverstoß vor, so beschließt das Parlament entweder (mit einfacher Mehrheit), dass der Vertrag nicht von den Bestimmungen der Verfassung abweicht, oder es stimmt diesem mit einer Zweidrittelmehrheit zu. Dieses Verfahren wird in der Praxis nur sehr selten angewandt.[95] Ungeachtet dessen kann jedoch nur mit Hilfe dieses Verfahrens festgestellt werden, ob Verträge auf der Grundlage von Art. 120 Grondwet verfassungsgemäß sind, der folgendermaßen lautet: „Der Richter beurteilt nicht die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen.“ Demzufolge ändert sich nach der Annahme eines Vertrages nichts, wenn sich nach der Vertragsannahme herausstellen sollte, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt und dieser nicht mit Zweidrittelmehrheit angenommen wurde. Nach allgemeiner Ansicht ist der Beschluss des Parlaments unwiderruflich.[96] Dies gilt jedoch nicht für den Fall, dass sich nach einer ohne Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgten Zustimmung herausstellt, dass der Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht bzw. eine solche Abweichung erforderlich macht. Nach der herrschenden Meinung muss in diesem Fall die Zustimmung zu dem Vertrag nachgeholt werden, und zwar unter Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet .[97]
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Was aber geschieht, wenn sich die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe (Regierung, Erste und Zweite Kammer des Parlaments) bezüglich der Frage nicht einig sind, ob möglicherweise von Bestimmungen der Verfassung abgewichen wird? Schließlich besteht die Gefahr, dass diese zu gegensätzlichen und daher nicht zu vereinbarenden Ergebnissen kommen. Was würde beispielsweise geschehen, wenn die Zweite Kammer einem Vertrag mit einfacher Mehrheit zustimmt, da sie keinen Verfassungsverstoß feststellen konnte, die Erste Kammer demgegenüber feststellt, dass ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt? Nach Auffassung des Staatsrats enthält die Verfassung diesbezüglich klare Regelungen. Folgende Szenarien hält er für denkbar:[98] In dem ersten Szenario nimmt die Regierung eine Position ein, die sich von der Auffassung beider Parlamentskammern unterscheidet. In diesem Fall muss sich die Regierung nach dem Urteil des Parlaments richten oder von der Ratifikation des Vertrages absehen. Das zweite Szenario liegt vor, wenn die Regierung und die Zweite Kammer der Auffassung sind, dass ein Vertrag von Verfassungsbestimmungen abweicht, die Erste Kammer aber zu einer anderen Schlussfolgerung kommt und die Zustimmung zu dem Vertrag mit einer einfachen Mehrheit erteilt. In diesem Fall muss die Regierung die Ratifikation des Vertrages verweigern, es sei denn, sie stimmt der Auffassung der Ersten Kammer nachträglich zu. Das dritte Szenario tritt ein, wenn die Regierung und die Erste Kammer übereinstimmend der Auffassung sind, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt, die Zweite Kammer aber anderer Meinung ist und das Zustimmungsgesetz nach Änderung der Abweichungsklausel mit einfacher Mehrheit verabschiedet. Nach der Auffassung des Staatsrats und in Übereinstimmung mit der hierzu herrschenden Meinung in der Literatur[99] sollte die Erste Kammer sich in diesem Fall entweder gar nicht mit dem Gesetz befassen, es ablehnen oder dem Vertrag trotz allem mit einfacher Mehrheit zustimmen, da sie nicht die Befugnis zur Änderung von Gesetzen hat. Im vierten Szenario beschließt die Regierung, dass kein Verfassungsverstoß vorliegt, während die beiden Kammern die gegenteilige Auffassung vertreten. In diesem Fall können beide Parlamentskammern das Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit verabschieden, nachdem die Zweite Kammer die Abweichungsklausel entsprechend geändert hat.[100]
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In einem wissenschaftlichen Gutachten zu Verträgen, die von Verfassungsbestimmungen abweichen, und zur Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen stimmen Besselink und andere mit einigen der Prämissen der Szenarien nicht überein.[101] Sie betonen vielmehr die unabhängige Stellung der drei Gesetzgebungsorgane und heben hervor, dass jedes der drei Organe eine eigene verfassungsrechtliche Rolle habe. Demzufolge können beide Kammern des Parlaments sich ihr eigenes Urteil bilden und sich unabhängig voneinander für das jeweils anzuwendende Verfahren entscheiden. Die Regierung wird das Ergebnis dieses Verfahrens hinnehmen müssen, da nur das Parlament verfassungsrechtlich dazu ermächtigt ist, das zur Annahme eines Vertrages erforderliche Zustimmungsgesetz zu erlassen. Die parlamentarische Zustimmung liegt natürlich nur dann vor, wenn beide Kammern des Parlaments ihre Zustimmung zu dem in Frage stehenden Gesetz gegeben haben.
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Des Weiteren wurde vorgeschlagen, den Anwendungsbereich von Art. 91 Abs. 3 Grondwet zu erweitern, so dass auch Verstöße gegen den Geist der Verfassung und der sie tragenden ungeschriebenen Grundsätze mit einbezogen sind.[102] Dadurch würde jedoch das Verfahren gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet mit seinen erhöhten Anforderungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen.[103] Dies kann nach Meinung des Staatsrats jedoch nicht die Absicht des Verfassunggebers gewesen sein.[104] Zudem sei durch einen derart erweiterten Anwendungsbereich die Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet, da die Voraussetzungen für eine gerichtliche Überprüfung zu unbestimmt seien.[105]
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In letzter Zeit wurde auch die Aufhebung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet vorgeschlagen, da dieser zu kompliziert, zu selten angewandt und lediglich zum politischen Geschacher geeignet sei.[106] Man könnte sich in der Tat vorstellen, dass das Parlament durch Zustimmung mit einfacher Mehrheit abschließend feststellt, dass kein Verfassungsverstoß vorliegt und somit keine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Einige Abgeordnete der Ersten Kammer haben auf die groteske Situation hingewiesen, die durch die Auslegung des Art. 91 Abs. 3 Grondwet entsteht, nach welcher dieser nur bei Abweichungen von bestimmten Verfassungsbestimmungen anwendbar ist. Während Art. 91 Abs. 3 Grondwet immer dann angewendet werden müsse, wenn ein Vertrag gegen verhältnismäßig unwichtige, zweitrangige Bestimmungen verstoße, könnten dagegen Verträge, die gegen den Geist der Verfassung oder der sie tragenden ungeschriebenen Grundsätze verstoßen bzw. die nationale Souveränität verletzen, ohne Schwierigkeiten angenommen werden.[107]
4. Die Offenheit der Verfassung und die Probleme der demokratischen Legitimation
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Nach den obigen Darstellungen galt in den Niederlanden bereits gewohnheitsrechtlich die Regel der unmittelbaren Wirksamkeit internationaler Verträge. Dies wurde im Zuge der Verfassungsänderung im Jahre 1953 normativ festgeschrieben. Dadurch sollte unter anderem die parlamentarische Mitwirkung bei der Zustimmung zu Verträgen gewährleistet werden. Schließlich wurde zur damaligen Zeit deutlich, dass internationale Verträge sich auf die niederländische Rechtsordnung auswirken könnten und somit ein ernstzunehmendes Demokratiedefizit entstehen könnte, wenn die reguläre Mitwirkung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren unterlaufen würde. Mit geringfügigen Änderungen blieb Art. 91 in der Verfassung aus dem Jahr 1983 erhalten, der nun wie folgt lautet:
„1. |
Ohne vorherige Zustimmung durch die Generalstaaten ist das Königreich nicht an Verträge gebunden und werden Verträge nicht gekündigt. Die Fälle, in denen keine Zustimmung erforderlich ist, bezeichnet das Gesetz. |
2. |
Durch Gesetz wird bestimmt, in welcher Weise die Zustimmung erteilt wird. Das Gesetz kann eine stillschweigende Zustimmung vorsehen. |
3. |
Enthält ein Vertrag Bestimmungen, die von der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen, können die Kammern ihre Zustimmung durch Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erteilen.“ |
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