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Den Beginn einer neuen inhaltlichen Entwicklungslinie[72] markiert der Erlass des zeitgleich mit dem StVÄG 1987 in Kraft getretenen Opferschutzgesetzes vom 18. Dezember 1986.[73] Der internationale rechtspolitische Trend, der das mutmaßliche[74] Tatopfer bzw. den Verletzten als eigenständigen Akteur des Strafverfahrens sieht und mittlerweile bald vier Jahrzehnte anhält, löste in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre eine Reformdiskussion aus, die den 55. DJT beschäftigte[75] und schließlich rasch[76] zu einem ersten Gesetz führte, das dem bisher im Strafprozess allenfalls als Zeuge oder Augenscheinsobjekt fungierenden Opfer Ansätze einer eigenen Rolle zuwies. Neu geregelt wurde die Nebenklage und für alle Verletzten die Beteiligtenbefugnisse und Informationsrechte der §§ 406d bis 406h StPO. Eine Erweiterung des Persönlichkeitsschutzes, namentlich des Schutzes vor Bloßstellung des Verletzten in der Öffentlichkeit und vor unzumutbarer Konfrontation mit dem mutmaßlichen Schädiger, ist in § 68a StPO (Vermeidung von Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich), § 247 S. 2 StPO (Entfernung des Angeklagten) und § 171b GVG (Ausschluss der Öffentlichkeit bei Erörterung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich eines Verletzten) vorgesehen. Verstärkt in den Blick rückt auch die Schadenswiedergutmachung, die durch Änderungen im Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO), Berücksichtigung bei der Vollstreckung von Geldstrafen (durch Gewährung von Zahlungsaufschub, § 459a StPO) und Strafzumessungsrelevanz von Ausgleichsbemühungen des Täters (§ 46 Abs. 2 S. 2 StGB) gefördert werden soll.
C. Die Zeit von 1987 bis heute
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Die folgende Entwicklung ist nicht mehr von umfassenden und langfristigen Vorhaben geprägt, vielmehr wird der Gesetzgeber zumeist reaktiv tätig, vor allem immer wieder zur Justizentlastung und zur „Bekämpfung“ bestimmter Erscheinungsformen der Kriminalität sowie zur Gestaltung von Einzelthemen. Im Folgenden wird versucht, die wichtigsten der zahlreichen Änderungen thematisch zu ordnen, wobei nicht selten mehrfache Zuordnungen möglich sind; der Übersicht halber werden zeitliche Unterteilungen nach je zwei bis drei Wahlperioden vorgenommen. Die leitenden Themen, die oft in mehreren Anläufen behandelt werden, sind:
1. |
Modernisierung der Strafjustiz, dies in mehrerlei Hinsicht: – durch Anpassung an gewandelte Lebensumstände, insbesondere an den technischen Fortschritt, aber vor allem auch – durch Versuche zur Bewältigung gestiegener Arbeitsbelastung, d.h. Steigerung der Prozessökonomie zur Justizentlastung durch immer weitere Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens; |
2. |
Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse, die der besseren „Verbrechensbekämpfung“ dienen soll, etwa dem technischen Fortschritt wie der Nutzung des Mobilfunks Rechnung trägt – sowie sonstige Maßnahmen zur „Verbrechensbekämpfung“; |
3. |
Verbesserung der Rechtsstellung von Verfahrensbeteiligten, a) des Beschuldigten, durch Ausbau der Verteidigungsrechte, aber auch durch Erhöhung des Rechtsstaatsniveaus in Gestalt von Präzisierung der Eingriffsgrundlagen dort, wo die vorkonstitutionelle StPO lapidar oder lückenhaft blieb; – dies gilt insbesondere für die Anforderungen an Eingriffe in das Recht der informationellen Selbstbestimmung (Datenschutz); b) der Zeugen und c) des Verletzten/Opfers sowie |
4. |
Anpassungen an europäisches Recht und Völkerrecht. |
I. Die Entwicklung von 1987 bis 1998
35
Sie zeigt anfangs durchaus die vom damaligen Bundesjustizminister in Aussicht gestellte Konsolidierungsphase.[77] Die Änderungen der 11. Legislaturperiode 1987 bis 1990 stellen sich überwiegend als Folgeänderungen aus anderen Rechtsgebieten dar,[78] z.B. die Änderungen der §§ 100a, 100b StPO infolge des PostStruktG[79] oder die Erweiterung des § 112a StPO auf Fälle des schweren Landfriedensbruchs infolge des StGBÄndG 1989,[80] das auch das zunächst bis Ende 1992 befristete Kronzeugengesetz enthielt[81].
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Durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990 wurden neben anderen kleineren Änderungen im Gerichtsverfassungsrecht Bildung und Verfahren der Großen Senate und der Vereinigten Großen Senate beim BGH neu geregelt.[82] Das seinerzeit umstrittene[83] Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (RpflEntlG) vom 11. Januar 1993[84] diente vornehmlich dazu, den Aufbau der Justiz in den neuen Ländern zu befördern durch Freisetzung von Personal in den alten Ländern.[85] Bedeutsam ist zum einen die Beschränkung der gerichtlicher Zustimmung bedürftigen Fälle der §§ 153 Abs. 1 S. 2 und 153a Abs. 1 StPO und die Ausdehnung des letzteren auf die mittlere Kriminalität durch Ersetzung des Erfordernisses „bei geringer Schuld“ durch das heutige „[wenn] die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“, zum anderen die Möglichkeit, nun gegen einen verteidigten Angeklagten durch Strafbefehl Freiheitsstrafe auf Bewährung bis zu einem Jahr zu verhängen (§§ 407, 408b StPO). Über Beweisanträge auf Vernehmung von Auslandszeugen entscheidet das Gericht nun nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 244 Abs. 5 S. 2 StPO). Im Rechtsmittelrecht fand die im Entwurf[86] vorgesehene Streichung der Sprungrevision und Schaffung einer Zulassungsrevision gegen Berufungsurteile keine Zustimmung, eingeführt wurde aber die Annahmeberufung bei geringfügigen Vorwürfen (§§ 313, 322a StPO).
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Im Gerichtsverfassungsrecht wurde der Strafbann des Amtsgerichts auf vier Jahre erhöht (§§ 24, 74 GVG); der Amtsrichter ist seitdem für Vergehen bis zu einer Straferwartung von zwei Jahren sachlich zuständig (§ 25 GVG). Im Verfahren gegen Erwachsene gehen nun alle Berufungen gegen amtsgerichtliche Urteile zur kleinen Strafkammer (§ 76 GVG), die zuvor nur über Berufungen gegen strafrichterliche Urteile verhandelte. In Jugendsachen ist für Berufungen gegen Urteile des Jugendrichters indes die neu geschaffene kleine Jugendkammer zuständig (§ 33b JGG). Die erstinstanzliche Strafkammer kann, wenn sie nicht als Schwurgericht zuständig ist oder nach Umfang und Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig ist, nun eine reduzierte Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen beschließen (§ 76 Abs. 2 GVG); diese zunächst bis Ende Februar 1998 befristete Regelung wurde später wiederholt verlängert[87] und schließlich neu gefasst (§ 76 Abs. 2 bis 5 GVG) und verstetigt[88]. Die Strafvollstreckungskammer entscheidet nun grundsätzlich durch einen Einzelrichter, wenn es nicht um die Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe oder Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geht (§ 78b GVG).
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Die Möglichkeit der Kostenquotelung (§ 464d StPO) auch bei Teilfreispruch (§ 467 n.F. StPO) schuf das Kostenrechtsänderungsgesetz vom 24. Juni 1994.[89] Als Folgegesetz zum OrgKG ist das Verbrechensbekämpfungsgesetz (VerbrbekG) vom 28. Oktober 1994[90] zu verstehen, das ebenso einen kodifikationsübergreifenden Ansatz verfolgt. Neben kleinen Erweiterungen der §§ 100a, 112 Abs. 3 StPO wird der als Mittel zur Disziplinierung der Verteidigung heftig kritisierte („Maulkorb“)[91] § 257a StPO eingefügt, der es dem Gericht erlaubt, in der Hauptverhandlung Anträge nur noch schriftlich stellen zu lassen. Das vereinfachte Verfahren wird neu gefasst und unter Streichung der §§ 212 bis 212b StPO als neuer Abschnitt in das sechste Buch verschoben (§§ 417 bis 420 StPO); dabei wird die Beweiserhebung – auch beim Einspruchsverfahren nach Strafbefehl, § 411 Abs. 2 S. 2 StPO – von den Fesseln des Strengbeweises befreit und ihr Umfang in das Ermessen des Gerichts gestellt (§ 420 StPO). Neu eingefügt wird ein achtes Buch (§§ 474 bis 477 StPO) über das länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, das u.a. die Einstellungsentscheidungen nach §§ 153, 153a StPO erfasst, die bisher nur dezentral dokumentiert wurden. Im Gerichtsverfassungsrecht wird eine reduzierte Besetzung des erstinstanzlichen Strafsenats beim OLG mit drei Richtern ermöglicht (§ 122 Abs. 2 GVG n.F.).
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