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Im Gerichtsverfassungsrecht wurde durch Gesetz vom 8. September 1969[30] die bisherige erst- und zugleich letztinstanzliche Zuständigkeit des BGH, die nach dem Vorbild des RG in § 134 GVG a.F. fortbestand, beseitigt. Ein zweiter Rechtszug in Staatsschutzsachen wurde eingeführt, indem die erstinstanzliche Zuständigkeit den Oberlandesgerichten übertragen wurde, die dann im Wege der Organleihe Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben (so der geänderte Art. 96 Abs. 5 GG) und auf diese Weise das weitere Tätigwerden des Generalbundesanwalts erlauben. Änderungen im GVG betrafen die Möglichkeit der Einrichtung von Wirtschaftsstrafkammern in § 74c GVG,[31] die Einführung der jetzigen Präsidialverfassung (§§ 21a ff. GVG), die Änderung der Dienstbezeichnungen der Richter[32] – „Richter am Amtsgericht“ statt „Amtsrichter“, „Vorsitzender Richter am Landgericht/Oberlandesgericht“ statt „Landgerichtsdirektor“ oder „Senatspräsident“ usw. – und Beseitigung der Falschbezeichnung „Geschworene“ für die Laienrichter des – ebenfalls seit 1924 bis heute falsch bezeichneten – Schwurgerichts in „Schöffen“[33]. Das 1. StRG vom 25. Juni 1969[34] führte nicht nur die Einheitsfreiheitsstrafe ein, sondern änderte auch den Strafbann des Amtsgerichts, der zuvor bei Zuchthaus auf zwei Jahre begrenzt und bei Gefängnis unbeschränkt war, nun auf maximal drei Jahre Freiheitsstrafe.
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Erwähnung verdienen daneben noch das neue StrEG vom 8. März 1971,[35] das u.a. der besseren Umsetzung der Unschuldsvermutung dient, sowie das mit Gesetz vom 18. März 1971[36] eingeführte Bundeszentralregister, das an die Stelle der bis dahin dezentral bei den Staatsanwaltschaften geführten Register tritt und die Resozialisierung durch Nichtaufnahme bestimmter Verurteilungen, kürzere Tilgungsfristen und ein umfassendes Verwertungsverbot nach Eintritt der Tilgungsreife (§ 51 BZRG) besser fördern soll.
IV. Gesamtreform in Teilgesetzen und Terrorismusbekämpfung (1974–1987)
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Anknüpfend an das StPÄG beabsichtigte der Gesetzgeber in den 1970er Jahren, „die Gesamtreform in einer Reihe aufeinander abgestimmter, schrittweise folgender Teilgesetze zu verwirklichen“[37]. Eine umfassende Reform des Strafverfahrensrechts wurde „als dringendes rechtspolitisches Anliegen“[38] empfunden und das Reformbedürfnis im Wesentlichen wie folgt begründet:
„– |
Trotz mannigfacher Änderungen, die die Strafprozeßordnung seit ihrer Schaffung im Jahre 1877 erfahren hat, ist ihre Grundkonzeption in wesentlichen Teilen eine solche des vorigen Jahrhunderts. Ein Gesetz dieses Alters bedarf selbst dann, wenn es sich in der Praxis bewährt hat, einer umfassenden Überprüfung, um es von überflüssig gewordenem Ballast zu befreien und seine Regelungen den veränderten Umständen und Bedingungen anzupassen. |
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Der soziale Rechtsstaat des Grundgesetzes hat einem neuen Verständnis von der Stellung des Einzelnen und der Gemeinschaft zum Durchbruch verholfen. Über die verfassungskonforme Auslegung und die Einzelanpassung hinaus muß ein Gesetz, das in so starkem Maße wie die Strafprozeßordnung angewandtes Verfassungsrecht ist, einer Totalrevision unterzogen werden, welche die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen berücksichtigt. |
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Die in wesentlichen Teilen abgeschlossene Strafrechtsreform hat in vieler Hinsicht die Aufgabe des materiellen Strafrechts und den Zweck der Strafe neu bestimmt. Aus dieser neuen Strafrechtsauffassung, die den Menschen und die Bemühung um seine Wiedereingliederung in den Mittelpunkt stellt, gewinnt auch das Strafverfahrensrecht Impulse für eine Neugestaltung. |
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In den fast einhundert Jahren seit dem Bestehen der Strafprozeßordnung haben sich Ursachen und Erscheinungsformen der Kriminalität gewandelt. Neue Typen von Straftaten haben sich gebildet; solche, die bei der Schaffung der Strafprozeßordnung im Vordergrund standen, haben erheblich an Bedeutung verloren. Hieraus ergeben sich neuartige Anforderungen an das Instrumentarium, das die Strafprozeßordnung zur Bekämpfung der Kriminalität zur Verfügung stellen muß.“[39] |
Außerdem gebe es neue Erkenntnisse über die Aussagekraft der Beweismittel und über Fehlerquellen sowie neue technische Möglichkeiten, die nur bei einer umfassenden Reform berücksichtigt werden könnten. Auch hätten Rechtsprechung und Prozessrechtswissenschaft die dogmatischen Grundlagen der StPO verfeinert und seien zu neuen Erkenntnissen gelangt, die der Gesetzgeber berücksichtigen müsse.
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Zur Vorbereitung der Reform wurde 1970 eine Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform“ aus Vertretern des Bundesministeriums der Justiz und aller Landesjustizverwaltungen gebildet, mehrere Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg eingeholt und rechtstatsächliche Untersuchungen eingeleitet. Von den folgenden fünf umfangreichen Novellen – 1. StVRG, 1. StVRGErgG, StVÄG 1979, OpferschutzG und StVÄG 1987 – fußt allerdings nur die erste (und der Entwurf eines 2. StVRG) maßgeblich auf dem Gedanken der Gesamtreform. Rieß stuft sie daher im Rückblick zu Recht nicht als Beginn einer Gesamtreform, sondern als bedeutsame „Einzelnovelle“[40] ein.
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Daneben sind einige ebenfalls umfangreiche amtliche Entwürfe vorgelegt worden, die nicht Gesetz geworden, teilweise nicht einmal in das Gesetzgebungsverfahren gelangt sind wie der Referentenentwurf eines 1. Justizreformgesetzes (Gesetz zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit) von 1971, der einen dreistufigen Gerichtsaufbau vorsah;[41] der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) von 1975,[42] der die Urteilsrüge als einheitliches Rechtsmittel vorsah; sowie ein Referentenentwurf zur Neuordnung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen von 1981[43].
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Mit drei zum 1. Januar 1975 in Kraft getretenen Gesetzen, dem EGStGB 1974, dem 1. StVRG und dem 1. StVRGErgG wurden StPO und GVG in bisher nicht gekanntem Ausmaß geändert.[44] Das EGStGB vom 2. März 1974[45] schloss nicht nur die Reform des materiellen Strafrechts, namentlich des Allgemeinen Teils, vorerst ab, sondern enthielt auch eine Reihe strafprozessualer Änderungen, deren bedeutsamste wohl die Einführung der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen in § 153a StPO als neue Sanktionsform ist. Eingeführt wurde ferner das vorläufige Berufsverbot in § 132a StPO, neu geregelt wurden die Sicherungsbeschlagnahme in §§ 111b ff. StPO und das Sicherungsverfahren der §§ 413 ff. StPO. Gestrichen wurden das alte Abwesenheitsverfahren (§§ 277 bis 284 StPO a.F.), das alte Strafverfügungsverfahren (§ 413 a.F. StPO) und die Möglichkeit, Freiheitsstrafen durch Strafbefehl zu verhängen. Im neu geordneten Strafvollstreckungsrecht wurden die Strafvollstreckungskammern eingeführt (§§ 74a, 74b GVG).
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Das 1. StVRG vom 9. Dezember 1974[46] hatte hauptsächlich die Straffung und Beschleunigung des Strafverfahrens zum Ziel und sollte daneben die Verfahrensrechte des Beschuldigten stärken. Dafür wurden im Ermittlungsverfahren die Zuständigkeiten von Staatsanwaltschaft und Gericht neu abgegrenzt dergestalt, dass die Staatsanwaltschaft zur alleinigen Ermittlungsbehörde bestimmt wird und die richterliche Mitwirkung auf das verfassungsrechtlich nötige Maß und eine mehr kontrollierende Tätigkeit beschränkt wird. Abgeschafft wurde daher auch die in der Praxis ohnehin nur selten genutzte gerichtliche Voruntersuchung (§§ 178 bis 197 StPO a.F.), die als Relikt des Inquisitionsprozesses und Anzeichen des Misstrauens gegenüber dem damals neuen Amt des Staatsanwalts angesehen wurde. Weitere Ermittlungszuständigkeiten wurden auf den Staatsanwalt übertragen (§§ 87, 100, 110, 159 StPO) und dessen Tätigkeit durch die Erscheinens- und Aussagepflichten der §§ 161a, 163a StPO gestärkt; endgültig gestrichen wurde die durch das StPÄG 1964 eingeführte Schlussanhörung und das Schlussgehör. Die bisher nur periodisch tätigen neunköpfigen Schwurgerichte wurden beseitigt, an ihre Stelle traten unter Beibehaltung des irreführenden Namens ständige große Strafkammern. Das Recht der Wiederaufnahme wurde geändert (§§ 23, 364a, 364b, 367, 369, 464a StPO, § 140a GVG), um die Erfolgsaussichten zu verbessern.[47]
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