d) Beispiele aus der Rechtsprechung
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Die verschärfte Strafandrohung des Forstdiebstahls mittels eines „bespannten Fuhrwerks“ oder eines „Lasttieres“ korrespondiert mit dem erhöhten Schaden durch das Fortschaffen größerer Mengen, das durch die Hilfsmittel erreicht werden kann. In BGHSt 10, 375 entschied der 1. Strafsenat daher, dass auch die Nutzung eines Kraftfahrzeugs, das zum selben Zweck eingesetzt wird, eine Bestrafung aus § 3 Abs. 1 Ziff. 6 PreußFDG begründen kann. Das Beispiel zeigt zugleich eindrucksvoll, dass eine teleologische Auslegung in besonderer Weise gefährdet ist, den Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG nicht immer gerecht zu werden. |
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Ist auch der Dieb, der seiner Entdeckung zuvorkommt, indem er das nichtsahnende Opfer niederschlägt, „auf frischer Tat betroffen“ und damit nach § 252 StGB gleich einem Räuber zu bestrafen? Laut BGHSt 26, 95 steht hinter der Gleichstellung die Annahme, dass der gewalttätige Dieb auch dann gegen das Opfer vorgegangen wäre, wenn es ihn vor Vollendung des Diebstahls ertappt hätte. Das fragliche Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ bilde nur den zeitlichen Rahmen für die Vergleichbarkeit der Situationen. Davon ausgehend konstatieren die Richter, dass ein „Dieb, der Gewalt übt, unmittelbar bevor er bemerkt wird, … genau so behandelt werden (muss) wie einer, der zuschlägt, nachdem er bemerkt wurde“ (S. 97). |
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Der Tatbestand der Zuhälterei (§ 181a StGB a.F.) kann nach BGHSt 4, 316 nicht bereits dann als erfüllt angesehen werden, „wenn der Mann nur überhaupt mit der Dirne eine gemeinsame Wirtschaft geführt habe“ (S. 319). Im Führen einer gemeinsamen Kasse liege nicht automatisch das vom Gesetzeswortlaut geforderte Ausbeuten des unsittlichen Erwerbs zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Eine zu weite Auslegung der Norm würde zu untragbaren Ergebnissen führen, weil dann bereits jede Zuschussleistung der Frau zum gemeinsamen Haushalt den Mann zum Zuhälter i.S.d. Vorschrift machen würde, auch wenn die „gemeinsame Wirtschaft“ partnerschaftlich ohne ausbeuterische Absichten geführt würde. |
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In BGHSt 14, 240 stellen die Richter das Erfordernis einer vom herkömmlichen Verständnis abweichenden Auslegung des bedingten Vorsatzes für § 164 Abs. 5 StGB a.F. fest. Die Vorschrift stellte die falsche Anschuldigung auch für den Fall unter Strafe, dass sie nicht wider besseres Wissen, aber vorsätzlich oder leichtfertig begangen wurde. Dass derjenige, der den Betroffenen nur möglicherweise für unschuldig hält, den Verdacht aber trotzdem nicht verschweigen will und deshalb die Anzeige macht, nicht bestraft werden soll, „liegt auf der Hand“ (S. 256). Es komme daher nicht auf die übliche Definition von bedingtem Vorsatz an, sondern darauf, ob der Täter den Betroffenen auch dann angezeigt hätte, wenn er dessen Unschuld gekannt hätte. |
II. Die „Konformauslegungen“ – Bedeutung, Arten und Abgrenzung
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Obwohl nicht zum „klassischen Methodenquartett“ gehörend ebenfalls bereits „klassisch“ (jedenfalls i.S. von „dem Grunde nach anerkannt und oft behandelt“) sind die „Konformauslegungen“. Die längste Tradition hat hier die verfassungskonforme Auslegung (sogleich 1.), die theoretisch im Strafrecht (mindestens[101]) in gleicher Weise von Bedeutung ist wie in anderen Rechtsgebieten, greifen doch strafrechtliche Sanktionen ebenso wie auch schon die strafrechtlichen Verhaltensnormen allemal „durchweg in die grundrechtlich gesicherten Freiheiten einzelner ein (…)“.[102] Eine solche verfassungskonforme Auslegung in ihrem ursprünglichen Verständnis ist abzugrenzen von einer nur verfassungsorientierten Auslegung auch diesseits der Verfassungswidrigkeit (im Anschluss 2. [ Rn. 50 ff.]). Ein – mutatis mutandis – ähnliches Verhältnis lässt sich dann auch für andere Formen der Konformauslegung beschreiben (dazu abschließend 3. [ Rn. 62 ff.]).
1. Die verfassungskonforme Auslegung
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Als verfassungskonforme Auslegung wird die Überlegung bezeichnet, dass unter mehreren grds. denkbaren Auslegungsergebnissen im Zweifelsfall demjenigen der Vorrang gebührt, welches zu einer auch verfassungskonformen Lösung führt, wenn andere Auslegungsergebnisse gegen die Verfassung verstoßen würden. Insoweit würde die verfassungskonforme Auslegung im o.g. Sinn stets nur „bedeutungsreduzierend“ wirken, weil sie (eine) bestimmte Lesart(en) gerade ausschließt. Streng genommen ist sie freilich im Unterschied zum bisher betrachteten klassischen Methodenquartett[103] kein eigenständiges Auslegungskriterium, sondern „nur“ ein Kontrollmechanismus nach Abschluss einer Auslegung, welche verschiedene Ergebnisse nebeneinander bestehen lässt.
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Theoretisch ist dies als Konzept ohne weiteres überzeugend; die praktischen Anwendungsfälle halten sich dagegen – jedenfalls auf den ersten Blick – in Grenzen. Dies nicht einmal so sehr wegen des Erfordernisses, dass „nach Abschluss“ des (originären) Auslegungsvorganges noch verschiedene Ergebnisse weiterhin möglich sind. Denn unter Berücksichtigung der oben beschriebenen grundsätzlichen Offenheit der Sprache dürfte dieser Fall nicht selten sein; dagegen dürfte es häufig an der zweiten Voraussetzung fehlen, dass bei der originären Auslegung einer als solchen verfassungsgemäßen einfachrechtlichen Vorschrift starke (etwa systematische, historische oder teleologische) Argumente nicht nur für verfassungskonforme, sondern auch für ein verfassungswidriges Ergebnis sprechen, denn nur dann greift dieses Kontrollkriterium ja ein.
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Auf den zweiten Blick könnte man indes etwa in all den Fällen, in denen das BVerfG eine Norm per se als verfassungsgemäß, eine bestimmte Auslegung aber als verfassungswidrig beanstandet[104] bzw. für die Auslegung bestimmte Vorgaben gemacht hat,[105] als potentielle Anwendungsfälle einer verfassungskonformen Auslegung betrachten, bei denen dieser Kontrollschritt freilich nun durch das BVerfG schon für die Zukunft vorweggenommen worden ist. Allerdings betreffen die hierzu bekannt gewordenen Fälle überwiegend Art. 103 Abs. 2 GG. Insoweit scheint es in den im Strafrecht wirklich praktischen Fällen oft weniger um eine materiell-verfassungskonforme Auslegung zu gehen,[106] sondern die formelle Komponente der Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Vordergrund zu stehen.[107] Eine prominente Ausnahme bildet die „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung[108] – und dies wohl nicht ohne Grund, handelt es sich hier doch um einen Bereich, der einerseits durch Art. 5 Abs. 1 GG in besonderer Weise verfassungsrechtlich geprägt ist und in dem andererseits die gesetzliche Vorgabe („Beleidigung“) denkbar offen und vage ist, so dass sich die oben formulierte Frage, ob bzw. wie gängige Auslegungsargumente überhaupt zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen können, nicht in gleicher Schärfe stellt.
2. Die verfassungsorientierte Auslegung (diesseits „harter Verfassungswidrigkeit“)
a) Einordnung: Strafrecht – Verfassung – Auslegung
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Von dieser Art der Ergebniskontrolle zu unterscheiden ist die praktisch wahrscheinlich durchaus wichtigere, theoretisch aber deutlich weniger beleuchtete[109] grundrechtsorientierte Auslegung als Sonderfall einer verfassungsrechtlich-systematischen Interpretation. Dies überträgt sonst vor allem im Zusammenhang mit der Rechtssetzung diskutierte Topoi in die Auslegung. Der Umstand, dass sich die meisten Abhandlungen zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht (schwerpunktmäßig, wenn nicht gar ausschließlich) mit der Straf gesetzgebung , nicht dagegen mit der Anwendung der Strafgesetze befassen, ist nämlich nicht nur etwas überraschend, weil die Verfassungsgemäßheit der konkreten Rechtsanwendung sonst in der verfassungsrechtlichen Diskussion durchaus eine eigenständige Rolle spielt; vielmehr ist es auch deshalb ein echtes Defizit, weil in diesem Bereich wohl „viel mehr zu gewinnen“ wäre.
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