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(3)Damit die Anwendung (und damit eine bestimmte Auslegung) zur Erreichung dieses Ziels auch geeignet ist, muss sie den entsprechenden Zweck fördern. Insoweit ist freilich zu beachten, dass das BVerfG bei der Überprüfung der Geeignetheit sehr großzügig ist[125] und die „Zwecktauglichkeit“ nur verneint, wenn die Mittel „objektiv“ und „schlechthin ungeeignet“ sind.[126] Dies gilt zunächst einmal hinsichtlich der Strafvorschrift selbst, muss dann aber auch für die Überprüfung der Normanwendung gelten, solange dabei nur diese Einschätzungsprärogative umgesetzt wird.[127] Daher müssen alle Bedenken hinsichtlich der empirisch kaum belegten und belegbaren Effektivität des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz[128] erst einmal zurückstehen. Selbst dann ist aber im konkreten Anwendungsfall die Effizienz für den Rechtsgüterschutz gering, wenn die durch eine Sanktionsandrohung verhinderte Kausalkette auch leicht anderweitig – ggf. sogar legal – vom Täter geknüpft werden kann.[129] Das macht aber eine Auslegung, die zu einer Strafdrohung kommt, damit nicht per se ungeeignet. Denn wenn man – für die Eignungsprüfung wohl unumgänglich – alternative hypothetische Abläufe mit berücksichtigt, muss man konsequenterweise auch deren gesamtes mögliches Spektrum miteinbeziehen, so dass die alternativen Rechtsgutverletzungen durchaus mit Unsicherheiten behaftet sein können. Allerdings wäre eine im konkreten Fall nur schwache Eignung zum Rechtsgüterschutz bei der Angemessenheitsprüfung noch einmal zu berücksichtigen.
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(4)Das Kriterium der Erforderlichkeit verlangt kurz gesagt, dass der verfolgte Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel erreichbar sein darf. Dieses Gebot des mildesten Mittels ist in vielen Fällen zwar Hauptansatzpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung,[130] allerdings wird auch hier dem Gesetzgeber eine erhebliche Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Effektivität unterschiedlicher Mittel zugestanden.[131] Diese wirkt sich notwendigerweise z.T. auch auf die Gesetzesanwendung aus, soweit die Effektivitätsprognose des Gesetzgebers sich in der Anwendung niederschlägt.
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(5)Als letzter Prüfungsschritt ist schließlich nach der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.) der Anwendung einer Strafnorm auf einen konkreten Sachverhalt zu fragen. Dieses Kriterium verlangt kurz gesagt, dass Grundrechtseingriff und Ertrag für den verfolgten Zweck nicht außer Verhältnis zueinander stehen. Eine solche weiter ausgreifende und weniger durch Einschätzungsprärogativen beschnittene Abwägung birgt aber natürlich gewisse Gefahren. Insoweit verwundert nicht, wenn Lagodny zu einer zurückhaltenden Prüfung der Angemessenheit auffordert. Da dieser Maßstab besonders vage sei und den Subjektivismen des Rechtsanwenders zu große Bedeutung einzuräumen drohe, seien die Sachprobleme der Prüfung möglichst nicht dort zu entscheiden, sondern schon auf den Prüfungsstufen „vorher“ abzuarbeiten.[132] Diese Mahnung ist zwar grundsätzlich berechtigt. Allerdings darf man die Augen nicht davor verschließen, dass eine solche vorherige Abschichtung eben nicht immer möglich ist – oder jedenfalls nicht, ohne auf den vorherigen Stufen versteckt solchen subjektiven Wertungen Raum zu verschaffen, was dann aber nicht einmal als Abwägungsvorgang offen gelegt wird. Mithin besteht zwar Grund für eine selbstkritische Zurückhaltung, nicht aber für eine übertriebene Scheu vor Erwägungen zur Angemessenheit.[133] Dies gilt umso mehr, als eine Prüfung auf der letzten Stufe des Schemas zumindest teilweise auch Folge des Zugeständnisses mehr oder weniger großer Einschätzungsprärogativen auf den Ebenen der Geeignetheit und Erforderlichkeit ist.
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Strukturell können dann Überlegungen wie folgt eine Rolle spielen: Auf einer ganz abstrakten Ebene können der Wert[134] der durch die Pönalisierung eines Verhaltens (kraft zur Anwendung eines Straftatbestandes führender Auslegung) geschützten Rechtsgüter und des verkürzten Grundrechts oft nur schwer verglichen werden. Grob verallgemeinernd kann man aber wohl die Hypothese aufstellen, dass für den überwiegenden Teil der Straftatbestände des StGB eher ein Vorrang im abstrakten Wert für das jeweils geschützte Rechtsgut als für die betroffenen Grundrechte besteht,[135] ohne dass diese freilich als völlig vernachlässigenswert zurücktreten würden. Aussagekräftiger ist eine konkretere Bewertung, bei der die Intensität der Beeinträchtigung der jeweiligen Interessen ins Blickfeld gerät. Betrachtet man auf dieser konkreteren Ebene die Tatbestände des StGB und das Interesse des Grundrechtsträgers, wird der Vorrang der strafrechtlich geschützten Güter oft noch deutlicher: Denn diese werden durch viele im Gesetz verbotene Verhaltensweisen mehr oder weniger irreparabel beeinträchtigt, jedenfalls aber in signifikanter Weise gefährdet und damit in ihrem Kernbestand betroffen. Die Grundrechte dagegen scheinen oft nur in Randmodalitäten, nämlich hinsichtlich einiger weniger deliktisch relevanter Verhaltensweisen betroffen zu sein.[136] Dies kann sich aber ändern, wenn etwa durch die Subsumtion eines Verhaltens unter einen Straftatbestand das Rechtsgut nur in geringem Maße geschützt werden kann (z.B. weil die Geeignetheit zwar auf Grund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers noch bejaht wurde, aber nur noch schwach ausgeprägt war), umgekehrt aber auf der Seite des Eingriffsgegenstandes ein hoher Schweregrad entsteht, weil nach der Art der Tätigkeit, aber auch nach den subjektiven Anforderungen eine Vielzahl grundrechtlich geschützter Verhaltensweisen unterlassen werden müssten.[137] Hierbei darf auch nicht vernachlässigt werden, dass der Grundrechtsträger – außerhalb der Fälle des dolus directus – im Voraus meist nicht mit Gewissheit wissen wird, ob es zu einem solchen Erfolg kommt oder nicht, so dass er zur Minimierung seines Strafbarkeits risikos vergleichsweise oft – und aus Rechtsgüterschutzgesichtspunkten noch dazu: ganz umsonst – auf seine Grundrechtsbetätigung verzichten müsste.
3. Weitere Arten der Konformauslegung bzw. der „vorrangorientierten Auslegung“
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Ähnliche Fragen der Konformauslegung (im engeren Sinne wie auch im Sinne einer an anderen exponierten normenorientierten Auslegung der Strafgesetze), wie sie unter 1., 2. für das GG diskutiert wurde, können sich im Prinzip immer stellen,[138] wo ein Nebensachverhalt nicht nur durch Strafgesetze geregelt wird, sondern thematisch auch in den Anwendungsbereich anderer Vorschriften fällt. Die entsprechenden Fragen tauchen vor allem dann auf, wenn diese anderen Gesetze entweder formal (normenhierarchisch) übergeordnet sind (wie das GG) oder aber ein sonstiger Vorrang postuliert wird (wie etwa für das Unionsrecht) bzw. zumindest eine von anderweitig eingegangenen Verpflichtungen abweichende Handhabung rechtspolitisch unerwünscht ist.[139]
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Da es sich beim Strafrecht in der Regel um Bundesrecht in Gestalt von formellem Gesetzesrecht handelt, bestehen solche „Vorrangverhältnisse“ im weiteren Sinne außer gegenüber der Verfassung insbesondere (wenn nicht gar ausschließlich) gegenüber internationalen Vorgaben, insbesondere als gegenüber der EMRK und dem Unionsrecht.[140] Bei ihnen dürfte freilich im Einzelfall die Grenze zwischen einer Konformauslegung im engeren Sinn und einer an den internationalen Vorgaben „nur“ orientierten Auslegung noch stärker verfließen als oben im Verhältnis zum Verfassungsrecht dargestellt, da die Frage nach einer „Verletzung“ der internationalen Vorgaben durch eine bestimmte nationalrechtliche Rechtsanwendung im Einzelfall noch schwieriger zu beantworten sein dürfte.[141]
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