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cc) Welche Schwierigkeiten mit der Anwendung in konkreten Fällen verbunden sein können, lässt sich anschaulich an der Frage zeigen, inwieweit etwa existente „Sondernormen“ eine Vorwertung für die Frage einer Strafbarkeit für berufsbedingte Unterstützungshandlungen enthalten:[66] Wendet man diese Grundsätze auf das Problem berufsbedingter Unterstützungshandlungen an, könnte man einerseits darauf abstellen, dass die außerstrafrechtlichen Normkomplexe, die das jeweilige berufliche Verhalten regeln, sachnäher und – da gerade auf den jeweiligen Leistungsgegenstand zugeschnitten – inhaltsreicher sind als die allgemeinen, unterschiedlichste Verhaltensweisen regelnden Strafnormen. Andererseits behandeln die außerstrafrechtlichen Normen zumindest regelmäßig den unzweifelhaft legalen Umfang mit den jeweiligen Leistungsgegenständen und haben dabei (wenn nicht gerade ebenfalls eine Verbotsnorm vorliegt) den Normalfall vor Augen, in dem es im Zusammenhang mit der Leistungserbringung zu keinem deliktischen Erfolg kommt. Insoweit könnte man auch die Strafnorm als inhaltsreicher erachten, wenn es zu einem der in ihr umschriebenen Erfolge kommt. Eine generelle Aussage lässt sich daher nicht ohne weiteres treffen, sondern es kommt maßgeblich auf den Inhalt der Straf- und vor allem der außerstrafrechtlichen Norm an. Dabei kann etwa danach unterschieden werden,
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ob nur eine rudimentäre Regelung des beruflichen Verhaltens ohne Aussage über das ganz konkrete Verhalten vorliegt (so dass ein größerer Inhaltsreichtum zwangsläufig ausscheidet), |
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ob für ein bestimmtes Verhalten mehr oder weniger detaillierte Regelungen bestehen und diese auch eingehalten wurden (was auf den ersten Blick zwar ein Indiz dafür sein kann, dass der Gesetzgeber die potentielle Gefährlichkeit bzw. Missbrauchsanfälligkeit eines Verhaltens gesehen hat, dieses aber unter Abwägung der betroffenen Interessen bei Einhaltung bestimmter formeller oder materieller Voraussetzungen bewusst in Kauf nimmt,[67] indes ist umgekehrt auch nicht selbstverständlich, dass die ausdrückliche Gestattung eines Verhaltens unter bestimmten gefährlichen Umständen auch in Konstellationen gelten soll, die im Übrigen die Voraussetzungen eines Strafgesetzes erfüllen) oder |
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ob ein Fall eines Verstoßes gegen die Sondernorm vorliegt, dem dann eine wichtige Bedeutung zukommt, wenn der Schutzzweck der verletzten Sondernorm gerade darin besteht, zu verhindern, dass bestimmte deliktische Erfolge erleichtert werden; man könnte hier auch sagen: Es gibt kein Konkurrenzproblem, sondern das Strafrecht verschärft die Verhaltensnorm der nicht-strafrechtlichen Vorschrift. Dagegen ist ein Verstoß gegen eine nicht-strafrechtliche Norm unbeachtlich, soweit der Schutzzweck der verletzten Norm den späteren deliktischen Erfolg nicht erfasst. |
3. Historische und historisch-genetische Auslegung
a) Der Kontext von Vor- und Entstehungsgeschichte
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Die historische und die historisch-genetische Auslegung erschließen die Kontexte früherer Texte: die historische Auslegung den von früheren Rechtsnormen, die genetische die von Gesetzesmaterialien. Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber sich bei seiner Arbeit zum einen an Vorläuferregelungen – sei es ihnen folgend, sei es gerade bewusst neue Wege einschlagend – orientiert und dies auch oft in den Materialien zum Ausdruck bringen wird.[68] Auch die unkommentierte Übernahme älterer Regelungen kann allerdings von Bedeutung sein und u.U. so gedeutet werden, dass der Gesetzgeber eine bekannte Praxis zur Kenntnis genommen und keinen Anlass dazu gesehen hat, diese zu ändern. Dies kann ein Argument für die weitere Auslegung im Sinne der bisher geübten Praxis sein.
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Wo es keine unmittelbaren Vorläuferregelungen gibt – z.B. in der vor knapp 20 Jahren begonnenen Gesetzgebung zu den neuen Entwicklungen in der Informationstechnologie – wird im Gesetzgebungsverfahren umso mehr Anlass bestehen, das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung und die damit verfolgten Ziele offen zu legen und zu diskutieren. Freilich ist auch dieser Kontext mit Schwierigkeiten (und das heißt für die Argumentation: mit Einfallstoren für eventuelle Einwände[69]) verbunden: So ist z.B. „der Gesetzgeber“ keine homogene Gruppe, was die Bedeutung einzelner Äußerungen (etwa eines Abgeordneten) stark relativieren kann.[70] Des Weiteren wird das Gesetzgebungsverfahren nicht immer mit Blick auf die spätere Funktion als Auslegungshilfe geführt, so dass Lücken und Widersprüche nicht stets vermieden werden. So kann ein Gedanke in einer frühen Entwurfsbegründung auftauchen und in einer späteren fehlen; dann aber ist fraglich, ob dieser Gesichtspunkt letztlich fallen gelassen oder als selbstverständlich nicht noch einmal aufgegriffen worden ist.
b) Verengung der Verständnismöglichkeiten
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Bedeutungsreduzierend kann der genetische Kontext etwa wirken, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt, dass die Regelung gerade (nur) für ganz bestimmte Fallgruppen geschaffen wurde, bei denen nach der bisherigen Rechtslage eine unerwünschte Lücke bestand. Für die Auslegung ergibt sich dann nicht nur positiv, dass die Norm auf diese Fallgruppen anwendbar sein sollte, sondern möglicherweise auch negativ, dass andere Fälle, die gar nicht in den thematischen Anwendungsbereich der lückenhaften alten Regelung fielen, auch durch die Neufassung nicht erfasst werden sollen. So wird etwa nach § 263a StGB bestraft, wer „in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs durch unrichtige Gestaltung des Programms, durch Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten, durch unbefugte Verwendung von Daten oder sonst durch unbefugte Einwirkung auf den Ablauf beeinflusst“. Ein zentraler Streitpunkt bei dieser Vorschrift ist nun, wann eine Datenverwendung „unbefugt“ i.S. der 3. Var. erfolgt ist.[71] Teilweise wird hier in einer sog. subjektiven Theorie darauf abgestellt, ob die Datenverwendung dem (erkennbaren) Willen des „Berechtigten“ widerspricht;[72] damit würden aber nicht nur betrugsspezifische, sondern auch untreueähnliche Handlungen erfasst. Nun deuten aber nicht nur die gesetzliche Überschrift „Computerbetrug“ und die systematische Stellung hinter der Betrugsvorschrift des § 263 StGB, sondern auch die Gesetzgebungsgeschichte auf ein engeres Verständnis hin: § 263a StGB sollte nämlich nach dem Willen des Gesetzgebers nicht ein umfassendes „Vermögensdelikt in Fällen mit EDV-Bezug“ sein, sondern gerade die Lücke schließen, die bei der Anwendung des § 263 StGB entstehen kann, weil Computer nicht i.S. des Betrugstatbestandes „getäuscht“ werden bzw. keinem „Irrtum“ unterliegen können.[73] Daher wird überwiegend eine einschränkende Auslegung des Merkmals „unbefugt“ auf Fälle „betrugsnahen“ Verhaltens vorgezogen, d.h. auf Verhaltensweisen, denen ein „Täuschungswert“ zukommen würde, wenn sie nicht gegenüber einem Computer, sondern gegenüber einem Menschen vorgenommen würden.[74]
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Darüber hinaus kann der historische Kontext Bedeutungen ausschließen, wenn sich aus den Materialien ergibt, dass mit einer Regelung in einer bestimmten Frage nicht über den bisherigen Zustand hinaus bzw. vor allem nicht hinter den früheren Stand zurück gegangen werden sollte. Denkbare Bedeutungsvarianten, die einen solchen Rückschritt bedeuten würden, wären danach ausgeschlossen – es sei denn, der Gesetzgeber schafft explizit eine abweichende Regelung. Ein Beispiel für die erstgenannte Fallgruppe lässt sich abermals § 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB entnehmen. Im Zusammenhang mit der Scheinwaffenproblematik hat der Gesetzgeber des 6. StrRG nämlich auch ausgeführt, dass die Einschränkungen durch die „Labello-Rechtsprechung“ unberührt bleiben sollen.[75] Obwohl die Formulierung von § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB zulassen würde, auch die Drohung mit nach dem äußeren Eindruck ungefährlichen Gegenständen zu erfassen, wenn das Opfer über diese Ungefährlichkeit getäuscht wird, und auch wenn die Abgrenzung insoweit schwierig sein mag, hat sich der BGH daher zu Recht gezwungen gefühlt, diese Einschränkung zu übernehmen.[76] Demgegenüber hat – um ein Beispiel aus dem Strafprozessrecht anzuführen – der Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes in § 257c Abs. 4 StPO eine sehr klare Regelung geschaffen, unter welchen (relativ niedrigschwelligen[77]) Voraussetzungen das Gericht sich von einer Verständigung lösen kann und hat diese Lösungsmöglichkeit auch in der Gesetzesbegründung erläutert.[78] Vor diesem Hintergrund mag man einen etwaigen Rückschritt rechtspolitisch bedauern, kann aber bei der Auslegung nicht berücksichtigen, dass vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes die Bindungswirkung, welche die Rechtsprechung solchen Verständigungen über den fair-trial-Grundsatz zugemessen hat, wohl als sogar noch weitergehend interpretiert werden konnte.[79]
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