II. Das Strafanwendungsrecht in der Schweiz
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In der Schweiz ist das Strafanwendungsrecht in den Art. 3 bis 8 schwStGB normiert. Auch hier gilt das eigene Staatsgebiet als primärer Anknüpfungspunkt für die nationale Strafgewalt und wird demzufolge dem Territorialitätsprinzip(Art. 3 schwStGB) der Vorrang vor allen anderen Prinzipien eingeräumt.[290] Das Flaggenprinzip wurde zwar nicht ausdrücklich im schwStGB aufgegriffen. Jedoch werden auch ohne explizite Normierung alle Taten als in der Schweiz ausgeübt angesehen, die auf schweizerischen Schiffen und Luftfahrzeugen begangen werden.[291]
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Außer dem Territorialitätsprinzip bemüht das schwStGB in seinem Art. 4 Abs. 1 das Staatsschutzprinzip, wonach abschließend genannte inländische Strafnormen auch auf Auslandstaten angewendet werden, die sich gegen den Staat oder die Landesverteidigung richten. Ebenso ist gemäß Art. 5 schwStGB das Schweizer Strafrecht anwendbar auf einen abschließenden Katalog von Auslandstaten, die gegen Kinder oder Jugendliche verübt werden und überwiegend deren sexuelles Selbstbestimmungsrecht schützen. Auf das Recht des Tatorts kommt es hierbei nicht an. Allerdings muss sich der Täter in der Schweiz befinden und darf nicht ausgeliefert werden. Auf das Weltrechtsprinzipwird insbesondere in Art. 6 schwStGB zurückgegriffen,[292] beschränkt auf Auslandstaten, zu deren Verfolgung die Schweiz infolge eines internationalen Übereinkommens verpflichtet ist. Allerdings muss die jeweilige Tat auch an ihrem Begehungsort strafbar sein bzw. darf dieser keiner Strafgewalt unterliegen. Zudem muss sich der Täter wiederum in der Schweiz befinden, ohne allerdings ausgeliefert zu werden. Das aktive und das passive Personalitätsprinzip finden sich in dem – gegenüber Art. 4 bis 6 subsidiären – Art. 7 schwStGB wieder.[293] Bei der jeweiligen Straftat muss es sich um ein Auslieferungsdelikt handeln, das sowohl in der Schweiz als auch nach dem Recht des Tatorts strafbar ist, sofern dieser einer Strafgewalt unterliegt. Außerdem muss sich der Täter wiederum in der Schweiz befinden oder ihr wegen der ihm vorgeworfenen Straftat ausgeliefert werden, und er muss trotz zulässiger Auslieferung nach schweizerischem Recht aus irgendeinem Grund (z.B. mangels Auslieferungsbegehren) nicht ausgeliefert werden dürfen.[294]
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Der Begehungsort einer Tatwird auch im schwStGB nach dem Ubiquitätsprinzip bestimmt (Art. 3 i.V.m. Art. 8 schwStGB).[295] Eine Tat gilt danach an jedem Ort als begangen, an dem der Täter sie ausführt bzw. an dem der Erfolg tatsächlich eintritt (Art. 8 Abs. 1 schwStGB) bzw. an dem der Täter den Versuch ausführt bzw. der Erfolg nach seiner Vorstellung eintreten sollte (Art. 8 Abs. 2 schwStGB). Bei Unterlassungsdelikten ist derjenige Ort maßgeblich, an dem der Täter pflichtwidrig untätig bleibt (Art. 8 Abs. 1 schwStGB). Bei Distanzdelikten genügt es somit für die Anwendbarkeit des Schweizer Strafrechts, dass der Ausführungs- oder der Erfolgsort in der Schweiz liegt.[296]
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Bei Mittäternbegründet jede Handlung, die auch nur einer der Mittäter im Inland vorgenommen hat, die Anwendbarkeit des Schweizer Strafrechts auf sämtliche Mittäter.[297] Ähnlich gilt bei der mittelbaren Täterschaft als Ausführungsort sowohl der Ort, an dem der Hintermann handelt, als auch der Handlungsort des Tatmittlers.[298] Bei der Teilnahmeliegt der Begehungsort – mangels einer dem § 9 Abs. 2 StGB vergleichbaren Regelung – nach den allgemeinen Akzessorietätsregeln hingegen allein an dem (ausländischen) Ort, an dem die Tat selbst verübt wird.[299]
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts› § 31 Räumlicher Geltungsbereich› E. Bezüge zum Strafverfahrensrecht
E. Bezüge zum Strafverfahrensrecht
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Die Erwägungen im Hauptteil, nicht zuletzt zu den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen, haben aufgezeigt, dass sich eine rechtliche befriedigende Lösung zur Bestimmung wie Begrenzung der Reichweite der nationalen Strafgewalt mitunter nur schwer finden lässt. Demzufolge wären Plädoyers für „praxisorientierte“ Wege denkbar, die eine sinnvolle Beschränkung des Anwendungsbereichs des deutschen Strafrechts gewährleisten sollen. Solche Ansätze könnten entweder auf die generell bestehenden Entscheidungsspielräume der Staatsanwaltschaften und der Gerichte über die Vorschriften zur Einstellungnicht zuletzt der §§ 153 ff. StPO oder auf die speziell hierfür geschaffenen Regelungen wie insbesondere § 153c oder auch § 153f StPO für Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuches verweisen.
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So gestattet vor allem § 153cAbs. 1 S. 1 StPOder Staatsanwaltschaft, von der Verfolgung einer Straftat abzusehen, die nicht im Inland begangen wurde bzw. an der im Inland lediglich eine Teilnahme erfolgte (Nr. 1) bzw. die ein Ausländer im Inland auf einem ausländischen Schiff oder Luftfahrzeug begangen hat (Nr. 2). Nach § 153c Abs. 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft außerdem von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht ins Gewicht fiele oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskräftig freigesprochen worden ist. Schließlich ermöglicht § 153c Abs. 3 StPO bei Distanztaten ein Absehen von der Verfolgung von Straftaten, wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen.[300]
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Die Entscheidung steht jeweils im pflichtgemäßen Ermessender Staatsanwaltschaft.[301] Eine Einstellung nach § 153c Abs. 1 StPO kommt nach RiStBV Nr. 94 Abs. 1 S. 2 insbesondere dann in Betracht, wenn die in § 153c Abs. 2 StPO bezeichneten Gründe vorliegen können, wenn eine Strafverfolgung zu unbilligen Härten führen würde oder ein öffentliches Interesse an der strafrechtlichen Ahndung nicht oder nicht mehr besteht. Umgekehrt kann sich das Verfolgungsermessen im Sinne einer Verfolgungspflicht auf Null reduzieren, wenn dies in völkerrechtlichen Abkommen entsprechend vorgesehen ist.[302]
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§ 153f StPOermöglicht es außerdem der Staatsanwaltschaft, unter bestimmten Voraussetzungen von der Verfolgung von Straftaten gemäß §§ 6 bis 14 VStGB in den Fällen des § 153c Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO abzusehen. Ein entsprechendes Ermessen ist unter anderem eröffnet, wenn sich der Beschuldigte nicht im Inland aufhält und ein solcher Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist (Abs. 1 S. 1) bzw. wenn kein Tatverdacht gegen einen Deutschen besteht, die Tat nicht gegen einen Deutschen begangen wurde, kein Tatverdächtiger sich im Inland aufhält und ein solcher Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist und die Tat vor einem internationalen Gerichtshof oder durch einen Staat, auf dessen Gebiet die Tat begangen wurde, dessen Angehöriger der Tat verdächtig ist oder dessen Angehöriger durch die Tat verletzt wurde, verfolgt wird (Abs. 2 S. 1).[303]
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Solche Einstellungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft erlauben zwar im Einzelfall eine sinnvolle Selbstbegrenzung des staatlichen Strafanspruchs. Sie vermögen aber nicht die notwendige Diskussion zu ersetzen, wie weit in bestimmten Fallgruppen im Allgemeinen die nationale Strafgewalt unter Beachtung völkerrechtlicher Grundsätze reicht. Zum einen bleibt zu bedenken, dass der Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft weit und gerichtlich nicht überprüfbar ist.[304] Zum anderen kann den Strafverfolgungsbehörden ein Ermessen ohnehin nur eingeräumt werden, soweit die Anwendung des nationalen Strafrechts im jeweiligen Fall überhaupt zulässig bleibt. Sogleich auf die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden zu verweisen, bedeutet, diese entscheidende Vorfrage nicht zu stellen und somit grundsätzlich von einer (mitunter zu) weiten Beanspruchung nationaler Strafgewalt auszugehen, deren notwendige Korrektur dann den Strafverfolgungsbehörden anvertraut würde. Zumal die Entscheidung, welche Staatsgewalt sich der Gesetzgeber bei grenzüberschreitenden Delikten zugestehen will, in seiner eigenen Verantwortung liegt, ist insoweit einer Lösung über die Auslegung der „materiell-strafanwendungsrechtlichen“ Regelungen insbesondere der §§ 3 ff. StGB der Vorzug gegenüber einem „prozessualen Weg“ über Einstellungsvorschriften der StPO zu geben.
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