5. Anpassungsstrategien und -probleme mit Blick auf die Europäisierung
a) Grundrechtliche Impulse, insbesondere durch die EMRK
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Soweit das Unionsrecht subjektive Rechte gewährt, verlangt es deren effektive Durchsetzbarkeit vor nationalen Gerichten,[562] was auch eine hinreichende gericht- liche Kontrolle einschließt.[563] Gerade im Bereich des (Verwaltungs-)Prozessrechts entfaltet die EMRK partiell einen intensiveren oder breiteren Schutz als die Grundrechte des Grundgesetzes, weshalb es hier zu einer Addition von Schutzstandards kommen kann, die auch dem deutschen Verwaltungsrecht bisweilen Anpassungsleistungen abverlangen.
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Dies hat sich besonders im Bereich der Verfahrensrechte aus Art. 6, 13 EMRK gezeigt. Die im Vergleich zu deutschen Prozessgrundrechten vergleichsweise detailliert formulierte Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht, das öffentlich verhandelt und innerhalb angemessener Frist entscheidet.[564]
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Das deutsche Verwaltungsprozessrecht hat sich bislang als hinreichend flexibel erwiesen, europäische Menschenrechtsstandards durch völkerrechtskonforme Interpretation in das nationale Rechtsschutzsystem zu integrieren.[565] Exemplarisch verwiesen werden kann etwa auf die in Art. 6 Abs. 1 EMRK explizit enthaltene, im deutschen Verfassungsrecht aber keine Entsprechung findende[566] Garantie einer mündlichen Verhandlung sowie auf den durch Art. 13 EMRK garantierten Anspruch auf Rechtsschutz bei Verfahrensverzögerungen.[567] In beiden Fällen hat die EMRK dem deutschen Verwaltungsprozess entscheidende positive Impulse verliehen: Das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren sieht an sich keine obligatorische mündliche Verhandlung vor (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Doch wird bei Bebauungsplänen im Hinblick auf die von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfassten Eigentumsrechte der betroffenen Grundstückseigentümer eine mündliche Verhandlung auch von der deutschen Rechtsprechung für zwingend erachtet.[568] Ein Art. 13 EMRK genügendes Rechtsschutzsystem gegen Verfahrensverzögerungen ist zwar bislang noch Desiderat,[569] wird aber zwangsläufig auch hier das Resultat konventionskonformer Interpretation des nationalen Prozessrechts sein müssen.[570]
b) Reduzierte Kontrolldichte bei kompensatorischer Stärkung des Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße
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Die Stärkung der Verwaltungsverantwortung im europäisierten Verwaltungsrecht durch Entmaterialisierung und Prozeduralisierung des Rechts vermindert zunächst die Verantwortung der Gerichte. Das Unionsrecht ist folglich – grob gesprochen – regelmäßig durch eine im Vergleich zum deutschen Verwaltungsrecht großzügigere Annahme von „Vertretbarkeitsspielräumen“, zumal bei komplexen wirtschaftlichen[571] und naturwissenschaftlich-technischen Entscheidungen, und damit kehrseitig durch eine häufig geringere Kontrollintensität durch EuG und EuGH gekennzeichnet.[572]
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Kompensatorisch zu der Einräumung materieller Entscheidungsspielräume der Verwaltung wirken vor allem qualifizierte Begründungspflichten (Art. 296 AEUV) sowie im Zusammenhang damit eine Verstärkung des subjektiven Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße,[573] wodurch das Unionsrecht auch insoweit als Motor einer „Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts“[574] bzw. einer „funktionalen Subjektivierung“[575] von Rechten wirkt.[576] Der unionsrechtlich induzierten Stärkung des Verfahrens korrespondiert insoweit auch eine Stärkung der Verantwortung der Gerichte. Verfahrensverstöße, die nach nationalem Recht unbeachtlich bleiben (vgl. § 46 VwVfG), können kraft Unionsrechts beachtlich sein, denn die Anerkennung des Eigenwerts von Verfahren muss auf der Rechtsschutzseite jedenfalls bei Ermessensnormen im weiten Sinne zu einer (grundsätzlichen) Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern führen.[577] Auch die – ihrerseits dem Modell des dienenden Charakters von Verfahren entspringende – Vorschrift des § 44a Satz 1 VwGO bedarf einer unionsrechtskonformen Anwendung.[578] Solange effektiver Rechtsschutz gegen die jeweilige Sachentscheidung möglich ist und hierbei auch Verstöße gegen Verfahrensrecht zum Erfolg führen können, kann § 44a Satz 1 VwGO dagegen unmodifiziert zur Anwendung kommen.[579]
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Insgesamt spricht bei europarechts orientierter Auslegung somit rechtspolitisch manches für eine freiwillige und behutsame Rücknahme der materiellen Kontrolltiefe bei gleichzeitiger Stärkung des Verfahrensrechts auch beim indirekten Vollzug von Unionsrecht im Rahmen des nationalen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts.[580] Rechtlich gefordert wird eine solche Anpassung durch das Unionsrecht indes nicht.[581] Das Unionsrecht verlangt nur, dass dort, wo es Rechte Einzelner begründet, zur Durchsetzung dieser Rechte überhaupt wirksamer Zugang zu einem Gericht besteht.[582]
c) Abschied von der Schutznormtheorie?
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Das Unionsrecht verdrängt den subjektiven Rechtsschutz deutscher Tradition[583] nicht. Es substituiert nicht subjektive Rechte durch Formen entsubjektivierter Klagerechte, sondern tendiert lediglich zu einer Erweiterung des Rechtsschutzes, die einen „Abschied von der Schutznormtheorie“ nicht angezeigt erscheinen lässt. Unionsrechtlich induzierte Weiterungen der Klagebefugnis lassen sich vielmehr im Wege unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts inhaltlich verarbeiten.[584] Hintergrund der abweichenden (extensiveren) Konzeption des Unionsrechts ist, dass dieses den Bürger in stärkerem Maße auch als Interessent und Garant der Durchsetzung objektiver Gemeinwohlbelange wahrnimmt.[585] Dies führt dazu, dass die Schwelle für die Begründung von Rechten des Einzelnen mittels des Kriteriums des individuellen Betroffenseins vergleichsweise niedrig angesetzt und im Einzelfall selbständige Klagerechte auch dort begründet werden, wo es an einer unmittelbaren oder rechtlichen Betroffenheit fehlt.[586]
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Im Unionsrecht begründen beispielsweise – im Kontrast zur deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik – Vorsorgebestimmungen, jedenfalls soweit sie auch dem Schutz individualisierbarer Rechtsgüter wie der Gesundheit dienen, subjektive und damit individuell durchsetzbare Rechtspositionen.[587] Ferner wird man im Interesse einer effektiven Durchsetzung des unionsrechtlichen Beihilfenregimes Art. 108 Abs. 3 AEUV dahingehend auszulegen haben, dass diese Bestimmung auch Konkurrenten des Subventionsempfängers schützt. Hinsichtlich der deutschen Aktionspläne im Luftreinhalterecht hat der EuGH mit Recht festgestellt, dass der einschlägige Art. 7 Abs. 3 der Luftreinhalterichtlinie 96/62/EG[588] einem qualifiziert betroffenen Bürger einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Erlass eines Aktionsplans verleiht, dieser also eine Direktwirkung entfaltet, sobald die einschlägigen unionsrechtlichen Grenzwerte überschritten sind.[589] Damit ist auch davon auszugehen, dass nach richtlinienkonform ausgelegtem nationalem Recht (§ 47 Abs. 2 BImSchG) ein subjektives öffentliches Recht des Betroffenen auf ordnungsgemäße Luftreinhalteplanung besteht.[590]
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Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz des exklusiven Schutzes subjektiver Rechte geht gleichfalls auf Vorgaben des Unionsrechts zurück. Gemeint ist das UmwRG, das am 15.12.2006 in Kraft trat. Hiermit sollten Teile der EG-Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie umgesetzt werden.[591] Diese Richtlinie beruht ihrerseits auf der Aarhus-Konvention.[592] Als Kernstück des UmwRG gilt das in § 2 Abs. 1 Nr. 1 normierte Klagerecht bestimmter Umweltschutzvereinigungen gegen bestimmte immissionsschutzrechtliche, wasserrechtliche und abfallrechtliche Genehmigungsentscheidungen sowie – vereinfacht gesagt – gegen Entscheidungen über die Zulässigkeit von Vorhaben, für die eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung besteht. Da § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG jedoch entgegen dem unionsrechtlichen Konzept weiterhin die Geltendmachung subjektiver Rechte, wenn auch nicht notwendigerweise solcher der klagenden Vereinigung, verlangt, hat der deutsche Gesetzgeber insoweit ebenso wie indirekt auch mit § 11 Abs. 2 USchadG, der auf § 2 UmwRG verweist, die Vorgaben des Unionsrechts bislang unzureichend umgesetzt, wie der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens[593] festgestellt hat.[594]
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