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Bei Ermessensentscheidungen wird der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite die Möglichkeit eröffnet, zwischen verschiedenen Rechtsfolgen auszuwählen. Semantisch wird die Einräumung von Ermessen in der Regel durch die Andeutung verschiedener Handlungsoptionen verbalisiert („kann“, „darf“) und gegenüber gebundenen Entscheidungen („ist zu“, „muss“) abgesetzt. Sonderfälle bilden die Sollvorschriften sowie das intendierte Ermessen, bei dem das Gesetz zwar die grundsätzliche Handlungsrichtung vorgibt, hiervon aber Ermessensabweichungen für atypische Ausnahmefälle zulässt.[535] Im Einzelfall kann das Ermessen „auf Null“ reduziert sein und sich zu einer Handlungsverpflichtung verdichten, wenn entweder nur eine Entscheidung sachlich vertretbar ist oder grundrechtliche Einflüsse die verhältnismäßigen Entscheidungsoptionen einengen.
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Ermessen bedeutet nicht Entscheiden nach freiem Belieben. Vielmehr hat die Behörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 40 VwVfG). Hieraus haben Rechtsprechung und Lehre eine allgemeine Ermessensfehlerlehre entwickelt, die gleichermaßen die Grenzen des Ermessens und die Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle markiert (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).[536] Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Verwaltung eine gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsfolge wählt. Eine Ermessensunterschreitung ist gegeben, wenn die Behörde vom eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch macht, etwa weil sie sich rechtsirrig zum (Nicht-)Handeln verpflichtet fühlt.[537] Ein Ermessensmissbrauch liegt – insoweit in Abweichung vom wesentlich verwaltungsfreundlicheren Unionsrecht[538] – bereits dann vor, wenn sich die Behörde nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift leiten lässt.[539] Schließlich kann ein Ermessenfehler darin liegen, dass die Verwaltung Vorgaben des höherrangigen Rechts wie etwa der Grundrechte (insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG) oder der Staatszielbestimmungen (etwa Art. 20a GG) nicht hinreichend beachtet hat. Besonderen Regeln unterfällt das Planungsermessen.[540]
4. Andere Kontrollinstrumente
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Vor Erhebung der Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts grundsätzlich in einem administrativen Vorverfahren nachzuprüfen (§ 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO). Das damit im Prinzip obligatorische Widerspruchsverfahren ist Sachentscheidungsvoraussetzung der bezeichneten verwaltungsgerichtlichen Klagen und dient dem individuellen Rechtsschutz, der Selbstkontrolle der Verwaltung sowie der Entlastung der Verwaltungsgerichte.[541]
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Der Widerspruch, der grundsätzlich binnen eines Monats schriftlich oder zur Niederschrift einzulegen ist (§ 70 Abs. 1 VwGO), entfaltet – vorbehaltlich gesetzlicher Ausnahmen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO) – aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch nicht ab (§ 72 VwGO), ergeht ein (gerichtlich anfechtbarer) Widerspruchsbescheid, den nach § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Regelfall die nächsthöhere Behörde, in Selbstverwaltungsangelegenheiten die Selbstverwaltungsbehörde erlässt (Devolutiveffekt).
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Das Widerspruchsverfahren kann durch Gesetz ausgeschlossen werden (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO), wovon Bundes- und Landesgesetzgeber schon bisher häufig Gebrauch gemacht haben. Eine rechtspolitisch umstrittene jüngere Politik einzelner Länder (z.B. Bayern, Hessen), gegen die allerdings keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen,[542] geht dahin, das obligatorische Widerspruchsverfahren auf Landesebene aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und Kostensenkung, aber auch auf der Grundlage empirischer Studien über die mangelne Erfüllung der Selbstkontrollfunktion des Vorverfahrens in der Praxis (weitgehend) abzuschaffen.[543] Funktional entspricht dies dem in der Regel fakultativen „ recours administratif “ in Frankreich.[544]
b) Vergabenachprüfungsverfahren
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Das europäische Vergaberecht[545] stellt besondere Anforderungen an nationale Vergabeverfahren, hat durchsetzbare Bieterrechte begründet[546] und verlangt einen effektiven Bieterrechtsschutz.[547] In verspäteter[548] Umsetzung dieser Vorgaben wurde das Vergaberecht im Hinblick auf seine Funktion, den Wettbewerb in seiner freiheitlichen wie institutionellen Komponente zu schützen,[549] in das GWB nebst untergesetzlichem Regelwerk integriert (§§ 97ff. GWB).
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Das GWB sieht als Rechtsschutz bei Verstößen gegen bieterschützende Vergabevorschriften[550] das Vergabenachprüfungsverfahren durch unabhängige Vergabekammern des Bundes[551] und der Länder (§§ 104f. GWB) vor (§§ 107ff. GWB). Das Nachprüfungsverfahren, das durch das am 24.4.2009 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts wesentliche Änderungen erfahren hat,[552] ist ein besonderes Eilverfahren (vgl. §§ 113, 115 Abs. 2 GWB),[553] in dem der Untersuchungsgrundsatz gilt (§ 110 GWB) und in dem in einem förmlichen Verfahren mit mündlicher Verhandlung (§ 112 Abs. 1 GWB) durch Verwaltungsakt diejenigen Maßnahmen getroffen werden, die zur Beseitigung der Verletzung subjektiver Bieterrechte erforderlich sind (§ 114 GWB). Entscheidungen der Vergabekammer können durch sofortige Beschwerde zum Vergabesenat des zuständigen Oberlandesgerichts, das hier funktional als Verwaltungsgericht entscheidet,[554] angefochten werden (§§ 116ff. GWB).
c) Beauftragte (Ombudsmann)
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Einen allgemeinen Bürgerbeauftragten (Ombudsmann), der den Bürger beim Verkehr mit Behörden berät und unterstützt sowie die Verwaltung im Auftrag des Parlaments überwacht, gibt es auf Bundesebene nicht. Eine solche, aus Skandinavien stammende[555] und daneben insbesondere noch im angelsächsischen Rechtskreis, aber auch in Frankreich mit dem „ médiateur de la République “[556] und auf EU-Ebene[557] erfolgreich eingeführte Institution wird in Deutschland wegen des Vorhandenseins einer funktionsfähigen Verwaltungsgerichtsbarkeit und von Petitionsausschüssen für entbehrlich gehalten.[558] Nur auf Landesebene (Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein) gibt es solche „klassischen“ Ombudsmännern ausländischen Vorbilds vergleichbare Beauftragte, die generell die „sozialen“ Belange der Bürger wahrnehmen.
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Sonder beauftragte für bestimmte Grund- oder Querschnittsaufgaben gibt es dagegen in Deutschland zahlreich und mit zunehmender Tendenz. Hierzu gehören einerseits Beauftragte, die unmittelbar dem Verwaltungschef unterstehen und über begrenzte Einzelbefugnisse in der Linien-Verwaltung verfügen wie der Organisationsreferent oder der Beauftragte für den Haushalt in den Ministerien (z.B. § 9 Abs. 1 BHO). Andererseits fallen unter die Gruppe der Sonderbeauftragten auch Beauftragte mit Außenkompetenzen, die organisationsrechtlich „neben der Linie“ stehen wie Datenschutzbeauftragte, Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte. Sie alle vertreten dauerhaft bestimmte konkrete Sachanliegen in der Verwaltung, die ansonsten als nicht hinreichend repräsentiert gelten, und dienen Funktionen der (im ersten Fall internen, im zweiten Fall externen) Verwaltungskontrolle. In Einzelfällen werden derartige Beauftragte auch nur befristet und für sehr begrenzte Aufgaben (insbesondere der Organisation und Kontrolle) bestellt.[559] Unter deutschen Umweltjuristen findet seit einiger Zeit eine Debatte darüber statt, ob – erneut an ausländische Regelungsvorbilder anknüpfend[560] – zur Stärkung gegenwärtiger, aber vor allem auch zukünftiger ökologischer Belange bzw. des Nachhaltigkeitsprinzips ein spezieller Beauftragter („Ombudsmann der Nachkommen“, „Ombudskommission“, „Nachweltkommission“ o.ä.) eingerichtet werden sollte.[561]
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