bb) Regierungsakte und besondere Gewaltverhältnisse
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Regierungsakte ( actes de gouvernement ) unterliegen in einigen Verwaltungsrechtsordnungen keiner oder nur einer sehr eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, sei es, dass sie dieser von vornherein entzogen sind, sei es, dass der Exekutive ein gerichtlich nicht kontrollierbarer Spielraum eingeräumt wird.[364]
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Die Fälle, in denen ein bestimmter Verwaltungsbereich vollständig von der gerichtlichen Kontrolle ausgenommen ist, haben seit den 1970er-Jahren und der Verabschiedung des besonderen Gewaltverhältnisses in Schule, Strafvollzug, Militär und öffentlichem Dienst stark abgenommen.[365]
cc) Ermessen und andere Spielräume
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Alle Verwaltungsrechtordnungen in Europa kennen das Institut des Ermessens , also die Befugnis der Verwaltung, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben eigene Präferenzentscheidungen zu treffen.[366] Solche Spielräume gibt es sowohl im Bereich der gesetzesakzessorischen als auch der gesetzesfreien Verwaltung, wobei teilweise nur mit Blick auf die gesetzesakzessorische Verwaltung von Ermessen gesprochen wird.[367] Die Einräumung von Ermessen und anderen Spielräumen bedeutet in der Sache eine Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte und die Zuerkennung einer gerichtsfesten Prärogative zugunsten der Exekutive.
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In zahlreichen Verwaltungsrechtsordnungen markiert das Ermessen der Verwaltung geradezu den funktionalen Kern exekutivischer Gestaltungsaufgaben. In Frankreich hat das zur Folge, dass sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen auf offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage beschränkt ( contrôle restraint ).[368] In anderen Verwaltungsrechtsordnungen gilt grundsätzlich Vergleichbares; allerdings musste die gerichtliche Kontrolldichte vor allem unter dem Einfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips intensiviert werden.[369]
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Gerichtlich nicht kontrollierbaren Gestaltungsspielräumen der Verwaltung begegnet man in Deutschland, Italien[370] oder Österreich mit prinzipieller Skepsis. Ermessensentscheidungen werden hier auch auf die richtige Ermittlung der Tatsachenbasis und ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft.[371] Zudem hat man zur Gewährleistung einer möglichst intensiven gerichtlichen Kontrolle die Differenzierung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessen entwickelt. Nach dieser – in Deutschland auf Otto Bachof zurückgehenden,[372] aber auch in Österreich, Polen, der Schweiz und wohl auch in Italien anzutreffenden – Unterscheidung unterliegen auf der Tatbestandsseite einer Norm anzusiedelnde unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Gefahr“, „Zuverlässigkeit“, „schädliche Umwelteinwirkung“, „Denkmaleigenschaft“ etc. grundsätzlich einer vollständigen gerichtlicher Kontrolle. Beurteilungsspielräume, die zu einer Beschränkung der Kontrolldichte führen,[373] werden nur in engen Grenzen anerkannt.[374]
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Zudem haben Rechtsprechung und Literatur in allen Verwaltungsrechtsordnungen spezifische Grenzen des Ermessens herausgearbeitet und typische Ermessensfehler identifiziert, deren Vorliegen die – unterschiedlich dichte – gerichtliche Kontrolle überprüfen kann. Dazu gehören der Ermessensausfall , die Ermessensunter- und -überschreitung sowie der Ermessensmissbrauch ( détournement de pouvoir, sviamento di potere [375]).[376]
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Mittel- und langfristig dürfte im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolldichte des Verwaltungshandelns eine Konvergenz der Rechtsschutzsysteme zu erwarten sein. Während etwa das deutsche Verwaltungsrecht mit Figuren wie der normativen Ermächtigungslehre [377] den Bereich gerichtsfester Spielräume der Verwaltung vorsichtig ausgeweitet hat, zwingen in anderen Verwaltungsrechtsordnungen verfassungsrechtliche Anordnungen sowie Art. 6 und 13 EMRK und Art. 47 GRCh zu deren Reduzierung und zur Unterwerfung von Ermessensentscheidungen unter eine Verhältnismäßigkeitskontrolle.[378]
3. Klagearten und -gründe
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In den meisten Verwaltungsrechtsordnungen Europas steht der Verwaltungsakt bzw. seine Aufhebung traditionell im Mittelpunkt des (verwaltungs-)gerichtlichen Primärrechtsschutzes. Nach der insoweit prägenden Rechtsprechung des Conseil d’État , die breite Gefolgschaft gefunden hat,[379] ist bzw. war eine solche Aufhebung nur aus bestimmten Gründen zulässig: bei Unzuständigkeit ( incompétence ), bei Form- und Verfahrensfehlern ( vice de forme et de procédure ), bei einem materiellen Rechtsfehler ( violation de la loi ) und bei Ermessensmissbrauch ( détournement de pouvoir ). Die Entwicklung des französischen Verwaltungsprozessrechts ist jedoch durch eine Ausdehnung des auf die Aufhebung von Verwaltungshandlungen gerichteten recours pour excès de pouvoir und des auf alle anderen gerichtlichen Maßnahmen zielenden recours de plein contentieux gekennzeichnet, was zahllose Klagearten hervorgebracht hat.[380]
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Auch das italienische Verwaltungsprozessrecht kennt – wie das Unionsrecht (Art. 263 und 265 AEUV) – eine kassatorische Anfechtungsklage ( azione costitutiva di annullamento ) und eine Untätigkeitsklage ( azione contro silenzio , Art. 2 Abs. 5 Gesetz 241/1990) sowie eine Leistungs- und Feststellungsklage ( azione di accertamento ); eine Verpflichtungsklage ist ihm jedoch fremd.[381]
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Die praktische Bedeutung dieses im Kern aktionenrechtlichen Ansatzes ist erheblich zurückgegangen. Die Garantien effektiven Rechtsschutzes auf europäischer und nationaler Ebene, die Pluralisierung der Handlungsformen der Verwaltung und die Erkenntnis, dass auch die Rechtsetzung, der Abschluss von Verträgen, der Erlass von Realakten und informales Verwaltungshandeln Rechte und Interessen der Bürger beeinträchtigen können, drängen letztlich auf eine Entkoppelung von Verwaltungsakt und verwaltungsgerichtlicher Kontrolle und zu einer stärkeren Konzentration auf das zwischen Verwaltung und Bürger bestehende Rechtsverhältnis.[382] Insgesamt lässt sich daher durchaus ein europaweiter Trend zur Überwindung der noch vorhandenen „aktionenrechtlich“ geprägten Teile der Rechtsschutzsysteme ausmachen.
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In Deutschland ist mit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, den Vorgaben des Art. 19 Abs. 4 GG entsprechend, auf der Grundlage einer Generalklausel (§ 40 Abs. 1 VwGO) eröffnet.[383] Die einzelnen Klagearten – Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage – sind durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung soweit homogenisiert worden, dass sie allenfalls noch bei Detailfragen wie der Fristberechnung eine Rolle spielen. In den anderen Verwaltungsrechtsordnungen geht die Entwicklung, wenn auch mitunter auf unterschiedlichen dogmatischen Grundlagen, in eine ähnliche Richtung.[384]
4. Sonstige Formen rechtsschutzorientierter Verwaltungskontrolle
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Neben dem gerichtlichen Rechtsschutz kennen nahezu alle Verwaltungsrechtsordnungen Europas auch eine kaum systematisierbare Fülle von ( Verwaltungs-) Beschwerden ,[385] Widersprüchen , Einsprüchen , Gegenvorstellungen , Petitionen u.a.m. Sie sind nur zum Teil formalisiert und haben typischerweise den Zweck, eine interne Korrektur der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu erreichen.
a) Verwaltungsinterne Kontrollen
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Vor der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ist in zahlreichen Verwaltungsrechtsordnungen ein internes Vorverfahren vorgesehen, in dem Recht- und Zweckmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme, i.d.R. eines Verwaltungsakts, überprüft werden können bzw. müssen.[386] Dies eröffnet der Verwaltung Möglichkeiten zur Selbstkorrektur und entlastet zugleich die Verwaltungsgerichte.[387] Das gilt in Deutschland für das als Klagevoraussetzung konzipierte Widerspruchsverfahren ebenso wie für die „rechtsmittelähnliche Beschwerde“ in Griechenland.[388] Es entspricht funktional dem meist fakultativen recours administratif in Frankreich[389] bzw. dem ricorso in Italien, der allerdings in zahlreiche Unterkategorien zerfällt.[390]
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