199
Im Zuge der Entbürokratisierungsbemühungen der vergangenen Jahre hat das Vorverfahren allerdings teilweise an Bedeutung verloren. In einigen deutschen Ländern ist es entweder abgeschafft oder nur mehr als Alternative zur Erhebung einer Verwaltungsklage ausgestaltet worden.[391]
b) Ombudsmann und Beauftragte
200
Als weitere Form einer rechtsstaatlich inspirierten Verwaltungskontrolle hat sich in vielen Verwaltungsrechtsordnungen Europas nach schwedischem Vorbild[392] die Institution des Ombudsmannes etabliert.[393] Sie findet sich auch auf Unionsebene (Art. 228 AEUV).[394]
201
In Deutschland hat man die Einrichtung eines dermaßen „klassischen“ Ombudsmannes mit Blick auf den umfassenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz zwar nur in zwei Ländern vorgenommen. Hier wie auch in anderen Verwaltungsrechtsordnungen gibt es jedoch eine ständig wachsende Zahl von Sonderbeauftragten , die teils dem Parlament, teils der Regierung verantwortlich sind.[395]
c) Schiedsverfahren, Schlichtung und Mediation
202
Daneben gewinnen – vor allem dort, wo die Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren erheblich ist – alternative Formen der Streitbeilegung wie Schiedsverfahren oder die Mediation an Bedeutung.[396]
203
Wirksamkeit und Effektivität der Kontrolle der Verwaltung hängen nicht zuletzt von den Vollstreckungsmöglichkeiten (verwaltungs-)gerichtlicher Urteile ab. Dies war über lange Zeit ein nicht unerhebliches Problem, weil das Verwaltungsrecht mit Blick auf das Legalitätsprinzip allein auf eine freiwillige Befolgung von Urteilen setzte.[397] Heute orientiert sich die Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Urteile teils an den Regeln des Zivilprozesses,[398] teils gilt für sie ein spezifisches Vollstreckungsregime.[399]
6. Anpassungsstrategien und -probleme
a) Art. 47 GRCh und Art. 6 und 13 EMRK
204
Für die Mehrzahl der europäischen Verwaltungsrechtsordnungen lässt sich eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben erkennen. In allen nationalen Verwaltungsrechtsordnungen hat die Einbindung in den europäischen Rechtsraum im Allgemeinen und das Unionsrecht im Besonderen allerdings Anpassungserfordernisse ausgelöst, die – naturgemäß – zunächst auf Irritationen und Ablehnung gestoßen sind und auch in Zukunft stoßen werden. Das liegt zum einen an einer strukturellen Aversion der auf Rechtssicherheit, Berechenbarkeit und Kontinuität angelegten Rechtsordnung gegenüber Veränderungen, zum anderen daran, dass vor allem die nationalen Obergerichte mit dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Konkurrenz erhaltet haben, die mitunter auch grundlegende und deshalb schwierige Neuausrichtungen der nationalen Verwaltungsrechtsordnung erfordert hat und weiterhin erfordern wird.[400]
aa) Effektiver Rechtsschutz
205
Art. 47 GRCh und Art. 6 und 13 EMRK zielen auf einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte und treffen sich insoweit mit Vorgaben, wie sie in zahlreichen europäischen Verwaltungsrechtsordnungen seit langem verfassungsrechtlich verankert sind. In Deutschland ergeben sie sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, in Italien aus Art. 24 Cost. und in Spanien aus Art. 24 CE. Vergleichbares gilt für die Unabhängigkeit der Richter.[401]
206
Wo das nationale Verwaltungsrecht diesen Anforderungen nicht im vollen Umfang genügte bzw. genügt – etwa mit Blick auf die Unabhängigkeit der Gerichte,[402] den Anspruch auf ein faires Verfahren und eine mündliche Verhandlung, den rechtzeitigen[403] und vorläufigen Rechtsschutz, Entschädigungsansprüche u.a.m. –, war das nationale Verwaltungsprozessrecht teilweise erheblichen Modifikationen ausgesetzt. Diese Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen. Das gilt für die Eröffnung des Primärrechtsschutzes, den Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes[404] wie auch für die Ermöglichung eines angemessenen Sekundärrechtsschutzes.
207
Zur nachhaltigen Orientierung nationaler Rechtsschutzstandards an den Vorgaben von Art. 47 GRCh und Art. 6 und 13 EMRK trägt nicht zuletzt bei, dass die nationalen (Verwaltungs-)Gerichte zugleich funktionale Unionsrichter sind und bei der Entscheidung ihrer Fälle unionale und nationale Maßstäbe zugleich anzuwenden haben. Das legt schon rein faktisch eine parallelisierende Auslegung nahe.[405]
bb) Defizite des unionalen Verwaltungsrechtsschutzes
208
Nicht ganz eindeutig fällt dagegen die Beurteilung des unionalen Rechtsschutzes aus. Während teilweise davon ausgegangen wird, das Unionsrecht habe ein „kohärentes Rechtsschutzsystem etabliert, das dem Einzelnen lückenlosen effektiven Rechtsschutz gegen die Unionsgewalt zur Verfügung stellt“,[406] bedürfen vor allem jene Defizite einer verstärkten Aufmerksamkeit, die sich aus den unterschiedlichen Kontrollzuständigkeiten bei ebenen- oder grenzüberschreitenden Fällen im europäischen Verwaltungsverbund ergeben.
209
Unbefriedigend wirkt auch, dass der vom Europäischen Gerichtshof gewährte Rechtsschutz gegenüber Akten von Unionsorganen angesichts von Art. 263 Abs. 4 AEUV und dem Festhalten an der sogenannten Plaumann -Doktrin[407] erheblich hinter dem Niveau zurückbleibt, das von den nationalen Verwaltungsrechtsordnungen (zu Recht) gefordert wird.
b) Entmaterialisierung und Prozeduralisierung
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Soweit das unionale Verwaltungsrecht weniger auf materielle denn auf prozedurale Standards setzt und kompensatorisch zugleich qualifizierte Begründungserfordernisse statuiert, drängt es die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen, die wie die deutsche durch eine intensive gerichtliche Kontrolldichte gekennzeichnet sind, tendenziell zur Anerkennung großzügigerer Beurteilungs- und Ermessensspielräume.[408]
211
Auch hat die kontinuierliche Ausweitung subjektiver Klagerechte die Unterschiede zwischen den dem Individualrechtsschutz verpflichteten und den eher am Legalitätsprinzip orientierten Kontrollansätzen erkennbar eingeebnet. Das wird durch die Einführung von Verbands- und Popularklagen weiter befördert. Zu einem Systemwechsel, gar zum Abschied von einem subjektiv-rechtlich ausgerichteten Rechtsschutz zwingt es jedoch nicht.
Einführung› § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese› VIII. Verwaltung und Politik
VIII. Verwaltung und Politik
1. Die Dichotomie von Effektivität und Bindung
a) Schwächung der politischen Steuerung
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Die historischen Grundlagen der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen in Europa unterscheiden sich zwar zum Teil erheblich. Ihre Leitbilder reichen vom Weber’schen Ideal einer bürokratischen, lediglich gesetzesvollziehenden und apolitischen Verwaltung in Deutschland[409] und Österreich über das „ buon andamento “ in Italien[410] bis zur flexiblen und politisch versierten Politikgestaltung in Frankreich und Großbritannien.
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Dabei erscheint das auf das nationale Parlament zentrierte bürokratische Legitimationsmodell – ungeachtet seiner weitgehenden verfassungsrechtlichen Verankerung in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen – auf dem Rückzug. Föderalisierung und Dezentralisation, die Schaffung unabhängiger Agenturen[411] und Einrichtungen sowie die Suche nach neuen Steuerungsformen lassen dieses Steuerungs- und Legitimationsmodell veraltet und zunehmend dysfunktional erscheinen.[412] An seine Stelle tritt eine final ausgerichtete, unterschiedliche Belange integrierende, entmaterialisierte und prozeduralisierte politisch gestaltende Verwaltung durch parlamentarisch nicht verantwortliche und nur schwach legitimierte technokratische Akteure.[413] Ob und inwieweit dieser Paradigmenwechsel mit Grundanforderungen des nationalen Verfassungsrechts vereinbar ist und ob seine politischen Kosten nicht zu hoch sind, wird weder auf unionaler noch nationaler Ebene angemessen diskutiert. Dabei birgt diese Entwicklung durchaus das Risiko, dass sich die Bürger Europas mehr und mehr einem von ihnen nicht mehr beeinflussbaren System ausgesetzt sehen könnten, das Züge eines autoritären Regimes trägt.
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