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Der Rat der XXII trat in der Lütticher Lambertus-Kathedrale zusammen und besaß die Zuständigkeit, in bestimmten Fällen,[20] in denen Beamte ihr Amt missbraucht hatten, Recht zu sprechen. Er wurde am 25. Februar 1344 aufgelöst, jedoch bereits 1373 unter Johann von Arkel im Zuge des Friedens der XXII in derjenigen Form, die er auch in Zukunft beibehalten sollte, wiedereingesetzt. Von Johann von Bayern im Jahr 1408 erneut aufgelöst und später von Johann von Heinsberg wiedereingesetzt, fristete der Rat Jahrhunderte lang ein bescheidenes Dasein. Später konnte er sich vollständig bewähren, insbesondere während der Jahre nach der schweren Niederlage Lüttichs gegen das Heer Karls des Kühnen. Vier weitere Frieden der XXII bestimmten im späteren Verlauf die Zuständigkeiten des Gerichts näher. So war es auch zuständig für die Überwachung der Einhaltung der Friedensabkommen zwischen den Fürstbischöfen und deren Untertanen.[21]
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Der Rat der XXII von 1373 bestand aus 22 Richtern, die jährlich von den drei Landständen (Domkapitel,[22] Adelige [Bannerherren und Ritter] sowie freie Städte [Lüttich, Huy, Dinant, Sint-Truiden, Tongern, Fosses und Beulen]) gewählt wurden. Somit waren die Richter keine Vertreter des Fürstbischofs. Der Rat trat mindestens einmal im Monat zusammen und wurde bei seiner Tätigkeit von einem Gerichtskanzler, einem Gerichtsschreiber, mehreren Wachmännern, Übersetzern sowie einem Prokuristen für Steuerangelegenheiten unterstützt. Ab 1376[23] unterstand der Fürstbischof selbst nicht mehr der Jurisdiktion des Rats. Dieser hatte vielmehr die Aufgabe über Amtsmissbräuche, Eingriffe in das Eigentumsrecht und die persönliche Freiheit oder Rechtsverweigerungen zu entscheiden. Nach dem dritten Frieden der XXII sowie dem Frieden von Saint-Jacques von 1487 durfte der Fürstbischof „die Handlungen seiner Beamten nicht [mehr] in seine Verantwortung ziehen“, da er der Gerichtsbarkeit des Rats der XXII nicht unterworfen war. Wie Eugène Polain feststellte, „kannte das Lütticher Land [alles in allem] bereits ab dem 14. Jahrhundert den heute in Art. 88 der belgischen Verfassung verankerten Grundsatz: Die Person des Königs ist unverletzlich, seine Minister [hingegen] sind verantwortlich.“[24] Darüber hinaus konnte der Rat auf Antrag Stellungnahmen abgeben und Rechtsauslegungen vornehmen.[25]
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Allerdings war der Rat schnell mit einer großen Anzahl rechtsmissbräuchlicher Klagen konfrontiert.[26] Als Reaktion hierauf wurde durch den Frieden von Saint-Jacques von 1487 ein Berufungsverfahren vor einem Spruchkörper der Landstände geschaffen: die Revisionsstände der XXII. Dieses Gericht bestand aus 14 „Vertretern der Revisionsstände“, die von den verschiedenen politischen Körperschaften des Fürstbistums ernannt wurden.[27] Gegen das Urteil der Revisoren stand kein Rechtsmittel mehr offen.[28]
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Zu Beginn des 17. Jahrhunderts[29] – „auf dem Höhepunkt seiner Macht“[30] – verlor der Rat der XXII zugunsten des Fürsten nach und nach an Glanz und Unabhängigkeit. In der Endphase des Ancien Régime gelang es dem Gericht trotz ernsthafter Versuche nicht mehr, seine Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Im Juli 1794 wurde es schließlich aufgelöst.[31] Mirabeau soll dennoch bei einem Aufenthalt in Lüttich Folgendes geäußert haben: „Meine Herren Lütticher, was können Sie denn sonst noch begehren? Wir in Frankreich könnten uns glücklich schätzen, erhielten wir nur einen Teil des Freiheitsschutzes, über den Sie bereits seit Jahrhunderten verfügen.“[32]
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Neben diesen historischen Ereignissen prägten den belgischen Staatsrat in seiner heutigen Form vor allem auch die Institutionen Frankreichs unter Napoleon.[33] Belgien und das Lütticher Land wurden durch das Dekret vom 9. Vendémiaire des Jahres IV (1. Oktober 1795) Teil Frankreichs. In der Folge unterstanden sie, ebenso wie das übrige Gebiet Frankreichs, dem von Art. 52 der Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13. Dezember 1799) vorgesehenen und vom Erlass vom 4. Nivôse des Jahres VIII (25. Dezember 1799) eingesetzten kaiserlichen Staatsrat.[34] Damit folgte Napoleon einer alten Rechtstradition, wonach Rechtsstreitigkeiten, die die Verwaltung betreffen, den ordentlichen Gerichten entzogen sind und die Verwaltung damit, anders als der einzelne Bürger, nicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterliegt.[35]
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In diesem Staatsrat waren alle den Kaiser und dessen Politik unterstützenden politischen Strömungen vertreten. Er hatte vor allen Dingen die Aufgabe, die Gesetze[36] und Rechtsverordnungen der öffentlichen Verwaltung zu verfassen und war daher aktiv an der Ausarbeitung großer Gesetzbücher ( Code civil und Code pénal ) sowie der grundlegenden Gesetze dieser Zeit beteiligt.
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Durch Art. 11 des Erlasses vom 5. Nivôse des Jahres VIII (26. Dezember 1799)[37] wurde dem Staatsrat zusätzlich die Zuständigkeit für Entscheidungen über „Streitigkeiten zwischen der Verwaltung und den Gerichten […], über die bislang die Minister zu befinden hatten“, übertragen. Ursprünglich wurden Verwaltungsstreitigkeiten zunächst von einer Abteilung des Staatsrates geprüft und anschließend dem Plenum vorgelegt. Durch Dekret vom 11. Juni 1806[38] wurde dieses Verfahren geändert und ein Ausschuss für Verwaltungsstreitigkeiten mit der Vorprüfung betraut. Vorsitzender dieses Ausschusses war der Justizminister als Großrichter, ihm zur Seite standen sechs Entscheidungsvorbereitungsräte ( maîtres des requêtes ) und sechs Beisitzer ( auditeurs ). Zu den letztgenannten zählten vier Belgier: Charles Philippe Alexandre d’Arberg, Goswin de Stassart, Antoine Vischer de Celles und Dieudonné Duval de Beaulieu. Am Ende des Verfahrens musste jedoch nach wie vor der Kaiser die Vollstreckbarkeit der vom Staatsrat getroffenen Entscheidung verfügen.[39]
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Im Rahmen der ersten Restauration 1814 wurde der Staatsrat zu einem Gremium der königlichen Räte. Während der 100-Tage-Herrschaft Napoleons vom 20. März bis 28. Juni 1815 erlangte er seine alte Stellung kurzzeitig zurück, bevor das napoleonische Regime nach der militärischen Niederlage bei Waterloo endgültig unterging.
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Die Gebiete des heutigen Belgiens wurden im Zuge des Wiener Kongresses 1815 den Niederlanden angegliedert. Auch während der niederländischen Herrschaft wurde gem. Art. 71 bis 74 der Verfassung des Königreichs der Niederlande vom 24. August 1815 ein Staatsrat errichtet.[40] Hierbei handelte es sich jedoch hauptsächlich um ein Beratungsorgan, dessen Stellungnahme bei Gesetzesentwürfen, Gesetzesvorschlägen sowie bei allen vom Monarchen für bedeutsam erachteten Fragen eingeholt wurde.
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Nach der Belgischen Revolution von 1830 verzichtete die mit der Schaffung der Organisation des künftigen belgischen Staates beauftragte verfassungsgebende Versammlung auf die Einrichtung einer vergleichbaren Gerichtsbarkeit. Eine solche erschien „in den Augen der Belgier […] weniger wie ein Verwaltungsgericht als vielmehr wie ein Instrument königlicher Allmacht“.[41] Mit anderen Worten galt der Staatsrat als das Symbol autokratischer Bestrebungen des Herrschers. Durch Art. 4 des Erlasses vom 16. Oktober 1830 über die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und die Freiheit der Lehre wurde daher die Zuständigkeit des niederländischen Staatsrates für das Gebiet Belgiens aufgehoben.[42] Zwar ermöglichte Art. 145 Belg. Verf. (damals Art. 94) die Errichtung von „Streit“-Gerichten für Verfahren über politische Rechte und solche existierten zu der damaligen Zeit auch tatsächlich.[43] Diese waren jedoch hauptsächlich für örtliche Behörden oder in Bezug auf Bürgerwehren oder Kriegsopfer gebildet worden und wiesen nicht immer alle Merkmale einer echten Gerichtsbarkeit auf. In den Worten André Masts wollte „[d]er Verfassungsgeber […] den ordentlichen Gerichten eine herausragende Rolle für den Schutz des Bürgers gegen die Willkür der Verwaltung vorbehalten, ohne ihnen ein Rechtsprechungsmonopol zu geben“.[44] Diese ablehnende Haltung wurde verstärkt durch einen umfassenden Glauben an die Tugenden des durch die neue Verfassung vorgesehenen und unterstützten Parlamentarismus. In dieser Hinsicht bekräftigte der Generalverwalter für die öffentlichen Finanzen im Kongress bei der Vorlage des Haushaltsentwurfs für das Jahr 1831, dass wir „[d]ank der neuen Verfassung unseres Vaterlandes […] in Zukunft keinen Staatsjustiziar und keinen Staatsrat mehr benötigen [werden]. Solche Institutionen wären, selbst wenn sie keinerlei Tendenz entwickelten, die sie für die staatsbürgerlichen Grundfreiheiten gefährlich machten, in einem Land mit repräsentativer Volksvertretung stets unnötig“.[45] In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass bereits die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes über die Schaffung eines Staatsrates Debatten und Kontroversen herbeigeführt hätte.[46]
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