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Ungeachtet dessen zielte ein erster von Senator de Gorge Le Grand am 30. Mai 1832 eingebrachter Gesetzesvorschlag, insbesondere anlässlich der Novellierung des Bergbaugesetzes vom 21. April 1810 (einem Bereich, in dem der niederländische Staatsrat zuvor bedeutsame Befugnisse innehatte) sowie anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes vom 1. Juli 1832 über die Einrichtung eines provisorischen Rates für das Bergbauwesen, auf die Errichtung eines Staatsrates mit beratender Funktion.[47] Auf Seiten der Regierung beabsichtigte Innenminister Rogier durch königlichen Erlass einen Gesetzgebungsrat zur Vorbereitung von Gesetzestexten sowie für die Unterbreitung von Stellungnahmen und Vorschlägen zu schaffen. Auch ein Gesetzesentwurf des Staatsministers de Theux de Meylandt sah vor, einem neu zu gründenden Organ Zuständigkeiten für Verwaltungsstreitsachen zu übertragen; dieser Vorschlag wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Am 26. April 1834 mahnte Generalanwalt Barbanson allerdings vor dem Brüsseler Appellationshof: „Offensichtlich entspricht es dem Willen der Verfassung, die Rechte aller Bürger unter den Schutz rechtsprechender Gewalt zu stellen und Letztere zum Schlichter für Streitigkeiten zwischen dem Bürger und der Staatsgewalt zu berufen. Man kann nicht behaupten, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit, die errichtet wurde, um zu verhindern, dass einem Bürger auch nur ein Tag seiner Freiheit oder ein Pfennig seines Vermögens ohne ein vorheriges Gerichtsurteil genommen wird, das im Rahmen einer eine gerechte Verteidigung ermöglichenden und die Öffentlichkeit wahrenden Verhandlung gefällt wurde, machtlos sei, dem Missbrauch durch die öffentliche Gewalt und den sträflichsten Übergriffen der Regierung gegenüber dem Bürger Einhalt zu gebieten.“[48]
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Trotz dieser „Mahnung“ wurde der von du Val de Beaulieu übernommene und am 15. Februar 1834 erneut eingebrachte Gesetzesvorschlag[49] von de Gorge Le Grand im Senat am 5. Mai desselben Jahres[50] nach hitziger Debatte mit 15:10 Stimmen verabschiedet. Gegner des Gesetzesvorhabens fürchteten, die Errichtung eines Staatsrates käme der Ermächtigung einer „Vereinigung von zwölf Blutegeln [gleich], die Belgien in aller Ewigkeit sein Blut entzögen“.[51] Der Gesetzesvorschlag wurde von der Abgeordnetenkammer am 29. März 1844 allerdings mit der Begründung zurückgewiesen, es bestehe kein Bedarf an einer solchen Einrichtung.[52] Auch einem erneuten, dem ersten Gesetzesvorschlag ähnlichen Vorstoß von Innenminister Rogier erging es am 15. Dezember 1853 gleich. Schließlich wurde am 25. Februar 1855 beim Senat von Baron d’Anethan, Fürst de Ligne, Forgeur und Savart ein Gesetzesvorschlag zur Schaffung eines Beratungsausschusses für Gesetzgebung und Verwaltung eingebracht, dessen Schicksal allerdings mit der Auflösung des Parlaments besiegelt wurde.
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In Folge dieser fortwährenden Misserfolge setzte die Regierung bevorzugt Sonderausschüsse zur Beteiligung an der Erarbeitung von Gesetzestexten und Beratungsgremien ein, welche hauptsächlich mit speziellen, manchmal jedoch auch mit allgemeinen Fragen befasst wurden. Gleichzeitig forderte die Rechtslehre zunehmend die Errichtung eines Organs, das bei der Anfertigung von Gesetzestexten unterstützend tätig werden sollte.[53] Bezüglich der Verteilung von Rechtsstreitigkeiten, die der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte entzogen sind, standen sich zwei Meinungen gegenüber: Teilweise wurde gefordert, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zu schaffen,[54] teilweise die Zuständigkeiten der rechtsprechenden Gewalt auszudehnen.[55]
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Die Nachteile der damaligen Struktur der Organisation zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zeigen sich in dem besonders markanten Beispiel des Falles Appoline Meeus aus dem Jahre 1865.[56] Appoline Meeus war eine 21-jährige Bedienung in einem Wirtshaus in Lüttich. Gemäß einer auf der Grundlage von Art. 96 Gemeindegesetz vom 30. März 1836[57] erlassenen Gemeindeverordnung wurde sie von den Behörden in ein Verzeichnis von Freudenmädchen eingetragen, die, wie es in der wenig schmeichelnden Wortwahl der damaligen Gesetze hieß, „allgemein bekannt ein ausschweifendes Leben“ pflegen. Nach den Bestimmungen der von der Stadt Lüttich erlassenen Verordnung musste sich Appoline Meeus zweimal in der Woche einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Es gelang ihr, zu belegen, dass sie überhaupt nicht zu der von der Verordnung umfassten Kategorie von Personen gehörte, sodass ihr das Gericht Erster Instanz von Lüttich Recht gab. Diese Entscheidung wurde vom Kassationshof jedoch mit der Begründung aufgehoben, es habe sich um eine „Maßnahme zur Gefahrenabwehr“ gehandelt, die einer gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. „Es oblag [dem Gericht Erster Instanz] weder die Notwendigkeit oder die Zweckmäßigkeit der aufgrund dieses Sachverhalts erfolgten Eintragung in das Verzeichnis zu würdigen noch die Rechtsfolgen einer von der zuständigen Behörde rechtmäßig erlassenen Verwaltungsmaßnahme zu unterbinden.“[58]
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Der Kassationshof bekräftigte seine Rechtsprechung mit Verweis auf den Grundsatz der Gewaltenteilung trotz eines Urteils der Strafkammer des Gerichts Erster Instanz von Huy, an das die Sache zurückverwiesen worden war, zugunsten von Appoline Meeus.[59] Damit endete die „traurige und aufschlussreiche Geschichte der Appoline Meeus“[60].
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Die Regierung bediente sich – wie bereits aufgezeigt – bei der Vorbereitung von Gesetzesnormen während des gesamten 19. Jahrhunderts unterschiedlicher Maßnahmen und der Unterstützung durch verschiedene Ausschüsse.[61] Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Einrichtung eines Gesetzgebungsausschusses, den Justizminister Henri Carton de Wiart durch königlichen Erlass vom 3. Dezember 1911 für sein Ministerium und für die allgemeine Anwendung und Fortentwicklung der Gesetze einsetzte.
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Die Überprüfung von Verwaltungshandeln durch die ordentlichen Gerichte erfolgte weiterhin nur ausgesprochen begrenzt. Diese geschah ausschließlich in denjenigen Fällen, in denen die Verwaltung wie eine privatrechtliche Person agierte,[62] was in der Folge als „Selbstverstümmelung der rechtsprechenden Gewalt“[63] bezeichnet wurde. Eine etwaige Verantwortung staatlicher Stellen gegenüber dem Einzelnen war 1902 nach wie vor eine unstatthafte Frage: „Die Behauptung, jedes persönliche Opfer des Einzelnen zugunsten aller Bürger bedürfe zwangsläufig und ausnahmslos einer Entschädigung durch die Allgemeinheit, führt gerade nicht zur Anerkennung eines behaupteten natürlichen Rechtes als vielmehr zu einer Verkennung der grundlegenden Voraussetzungen für die soziale Ordnung und den Bestand der Nationen.“[64]
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In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Belgien tiefgreifende Reformen eingeleitet. Vielfach wurde kritisiert, dass in der Zeit des gerade errungenen allgemeinen Wahlrechts eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte. Auch war die fehlende Verantwortlichkeit der Verwaltung für ihre hoheitlichen Handlungen nicht mehr haltbar.
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Im belgischen Zivilrecht war in dieser Hinsicht das La Flandria -Urteil vom 5. November 1920[65] ein entscheidender Meilenstein. In diesem wurde die Stadt Brügge dazu verurteilt, den Schaden auszugleichen, der durch einen auf kommunalem Grund umgestürzten Baum an den Pflanzen eines Gärtnereibetriebes entstanden war. Die konkreten Auswirkungen dieses Urteils blieben jedoch zunächst begrenzt. Es sollte nämlich noch bis 1963 dauern, bevor der Kassationshof erstmals feststellte, dass die Verwaltung durch den Erlass einer Verwaltungsmaßnahme eine rechtswidrige Handlung vorgenommen habe,[66] und erst 1980 entschied er, dass es den ordentlichen Gerichten obliege, die Verwaltung zur Wiedergutmachung eines durch ihr Fehlverhalten entstandenen Schadens durch Naturalrestitution zu verurteilen, sofern eine solche möglich ist und nicht auf der missbräuchlichen Ausübung eines Rechtes beruht.[67] Nichtsdestotrotz stellte bereits das La Flandria -Urteil den Anstoß für eine Haftung des Staates dar.
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