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Letztlich beansprucht das BVerfG zwar – insbesondere im Verhältnis zum EGMR – für sich Grundrechtskompetenzen. Es nimmt aber selbst die grundrechtliche Prüfungskompetenz nicht im möglichen und gebotenen Umfang wahr. Stattdessen versucht es mit ungeheurem Aufwand an – zum Teil wenig überzeugenden – theoretischen Erörterungen und Abgrenzungsversuchen[28] – mehr als „wissenschaftlicher Elfenbeinturm“ denn als der Praxis verpflichtetes Gericht agierend – seine Stellung im Verhältnis zum EGMR und EuGH – ohne sichtbaren praktischen Sinn wie auch Erfolg – zu verteidigen. Dies gilt vor allem – dazu unten[29] – in der nicht überzeugenden – für die Beschwerdeführer negativen – Judikatur zu den vom BVerfG unter Berufung auf Art. 79 Abs. 3 GG beanspruchten Kontrollvorbehalten bei Akten der europäischen Integration von Maastricht, über Lissabon bis hin zum Europäischen Rettungsschirm.
1› III› 3. Landesverfassungsbeschwerde
3. Landesverfassungsbeschwerde
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Anstelle der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG kann bei Grundrechtsverletzungen in zahlreichen Bundesländern – ab 1.4.2013 auch in Baden-Württemberg – unter bestimmten Voraussetzungen die Anrufung eines Landesverfassungsgerichts – dazu ausführlich unter Rn. 1393 ff.– in Betracht kommen.
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In dem föderativ gestalteten Staat der Bundesrepublik Deutschland stehen die Verfassungsgerichtsbarkeiten des Bundes und der Länder grundsätzlich selbstständig nebeneinander.[30] Es besteht daher im Prinzip – vgl. § 90 Abs. 3 BVerfGG – ein Wahlrecht zwischen der Anrufung des BVerfG und eines LVerfG, soweit nicht das Landesrecht Einschränkungen enthält.[31]
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Die Anrufung des LVerfG kann angesichts der rigiden Annahmeerfordernisse des BVerfG wie auch des teilweise über das Grundgesetz hinausgehenden Grundrechtsschutzes in den Landesverfassungen sowie der Überlastung des BVerfG zeitlich wie sachlich sinnvoll sein. Schließlich haben Landesverfassungsgerichte wie z.B. der BayrVerfG oder der HessStGH Verfassungsbeschwerden bzw. Grundrechtsklagen stattgegeben, nachdem das BVerfG zuvor die Annahme entsprechender Verfassungsbeschwerden abgelehnt hatte.[32] Sinnvoll kann der Weg zu einem LVerfG vor allem im Strafverfahrensrecht und Polizeirecht oder bei der Geltendmachung einer Gehörsverletzung sein. Die Einlegung der Verfassungsbeschwerde bei einem LVerfG liegt vor allem dann nahe, wenn die Zusammensetzung des Gerichts bzw. seine bisherige Rechtsprechung grundrechtsoffenere Entscheidungen erwarten lassen im Vergleich zum BVerfG.
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Bei Letzterem hatten und haben viele grundrechtlich relevante Bereiche keine Entscheidungs-chance auf Grund der Zusammensetzung der Senate. Man denke nur an die Honnecker-Entscheidung des BerlVerfGH.[33] Eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wäre vermutlich aussichtslos gewesen, hat das Gericht sich doch nach 1990 – erinnert sei nur an die MfS-Fälle – vor couragierten und rechtsstaatlich gebotenen Entscheidungen zu Gunsten von „Kommunisten“ oder MfS- Angehörigen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – „gedrückt“.
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Die Anrufung eines LVerfG sollte jedoch sorgfältig überlegt werden. Schließlich sind Prüfungsmaßstab und -umfang dieser Gerichte – wie unten ausführlich dargelegt[34] – beschränkt. Maßgeblich sind die Grundrechte der Landesverfassungen; mittelbar können aber Grundrechte des GG relevant sein. Prüfungsgegenstand können zudem nur Entscheidungen der Gerichte der Länder sein. Auch kann es an einer Kompetenz der LVerfGe fehlen, wenn in dem Verfahren bereits ein Bundesgericht involviert war, also z.B. nach dem LG und dem OLG auch der BGH in der Sache entschieden hat. Zu berücksichtigen ist bei der Wahl zwischen LVerfG und BVerfG schließlich, dass z.T. die landesgesetzlichen Regelungen Einschränkungen enthalten, wenn das BVerfG angerufen wird. Auch kann nach einer Landesverfassungsbeschwerde gegen das Urteil eines Landesgerichts – wie z.B. eines OLG – wegen Versäumnis der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG – keine Möglichkeit mehr bestehen für eine unmittelbare Verfassungsbeschwerde zum BVerfG gegen Entscheidungen der Fachgerichte; deren Gegenstand könnte nur noch eine Grundrechtsverletzung durch die Entscheidung des LVerfG sein.[35]
[1]
Dazu ausf. unter Rn. 525.
[2]
Dazu ausf. unter Rn. 980 ff.
[3]
Dazu ausf. unter Rn. 995 ff.
[4]
Vgl. auch J. Schmidt VerwArch. 2001, 443, 445: Es sei seitens der Fachgerichte nur schwer zu ertragen, „wenn eine gefestigte, sorgfältig begründete Praxis eines obersten Bundesgerichts mit einem einzigen, nicht substanziell begründeten Satz in Frage gestellt werde.“
[5]
So der BFH (NJW 1999, 3798) mit der Ablehnung des – vom BVerfG (DVBl. 2006, 569) zwischenzeitlich selbst aufgegebenen – steuerrechtlichen Halbteilungsgrundsatzes; erwähnt seien auch die wiederholte Einstufung der Schockwerbung als wettbewerbswidrig in BGHZ 149, 247 oder die Aufrechterhaltung verfassungsimmanenter Schranken der Versammlungsfreiheit durch OVG Münster NJW 2001, 2113 u. 2986.
[6]
BGH NStZ 1993, 134, 135.
[7]
Kuckein NStZ 2005, 697, 698.
[8]
BGH NJW 2006, 1529. 1532 folgte dezidiert nicht der vom BVerfG (NJW 2006, 672) vertretenen Rechtsansicht bei der Frage der Verfahrensdauer im Strafverfahren; dazu auch BGH NStZ 2006, 50.
[9]
Vgl. dazu Strate NJW 2006, 1480.
[10]
Foth NStZ 2004, 337.
[11]
Foth NStZ 2005, 457.
[12]
BGH NJW 2009, 2888; das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, Beschl. v. 16.8.2010 – 1 BvR 1750/09.
[13]
BGH NJW 2010, 2963.
[14]
BVerfGE 128, 326.
[15]
BVerfG Urt.v. 19.2.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09.
[16]
EGMR Urt. v. 19.2.2013 – Nr. 19010/07 – X u.a. gegen Österreich.
[17]
Vgl. Prantl SZ v. 25.4.2013, S. 4.
[18]
Vgl. nur das Antiterrordatei-Urteil des BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07.
[19]
EGMR NZA 2012, 199 – Siebenhaar/Deutschland; vgl. aber EGMR NZA 2011, 279 – Schüth/Deutschland. Die – auch senatsintern umstrittene – Entscheidung des BVerfG (125, 39, 103) zugunsten der Kirchen im Hinblick auf Ladenöffnungszeiten ist beim besten Willen nicht zukunftsweisend.
[20]
Hier finden sich nur vorsichtige Ansätze zu einem Menschenrechtsschutz im beruflichen Bereich bei Art. 8 EMRK, vgl. nur EGMR NJW 2010, 3419 – Bigaeva/Griechenland: Ablehnung der Zulassung zur Anwaltsprüfung.
[21]
BVerfGE 117, 163 (Erfolgshonorar).
[22]
Stattdessen beschränkt man sich auf umfangreich begründete und nicht haltbare Nichtannahmeentscheidungen wie z.B. BVerfG NJW 2010, 3705. Hier wurde es allen Ernstes am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG als verfassungskonform angesehen, dass Steuerberater bei Zusatzbezeichnungen auf einem Briefkopf einen räumlichen Abstand einhalten müssen!
[23]
Dies verkennt Voßkuhle NJW 2013, 1329.
[24]
Vgl. nur EGMR v. Urt. v. 17.12.2009-Nr. 19359-M./Deutschland; EGMR JR 2013, 78.
[25]
Vgl. nur EGMR FamRB, 2012, 243-Vaterschaftsanfechtung; FamRZ 2012, 1863 – Sorgerecht.
[26]
Vgl. Kleine-Cosack Die Rechtsstellung des EGMR aus der Sicht der deutschen Praxis – Fragwürdiger Kompetenzstreit zwischen EGMR und BVerfG, in: Stern/Prütting (Hrsg.), Das Caroline-Urteil des EGMR und die Rechtsprechung des BVerfG, 2005, S. 51 ff.
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