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Dem BVerfG blieb nichts anderes übrig, als dem Druck aus Straßburg nachzugeben. Vermehrt zieht es endlich auch bei der Auslegung der Grundrechte die Judikatur des EGMR heran.[12] In der „Görgülü“-Entscheidung[13] modifizierte es erstmals seine bisherige Rechtsprechung, indem es die Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR für deutsche Gerichte betonte. Das BVerfG begründete seine Entscheidung mit einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Das OLG habe eine im konkreten Fall ergangene Entscheidung des EGMR, die eine Verletzung des Art. 8 EMRK aufgrund des Ausschlusses des Umgangsrechts festgestellt hatte, nicht hinreichend beachtet, obwohl – in dieser Feststellung lag die allgemeine Relevanz des Falls – die staatlichen Gerichte über den verfassungsrechtlich fundierten Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zu einer solchen Beachtung grundsätzlich verpflichtet seien. Die EMRK wurde erstmals trotz ihres Rangs als einfaches Bundesgesetz mittelbar zum verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab erhoben, indem nicht nur die Vertragsstaaten als Völkerrechtssubjekte, sondern alle staatlichen Behörden und Gerichte an die Konvention gebunden werden, und zwar so, wie sie vom EGMR ausgelegt und konkretisiert wird. Auf diese Weise hat das BVerfG selbst die Grundlage dafür gelegt, dass es nunmehr zu echten Konkurrenzsituationen zwischen den Gerichten kommen kann.[14]
cc) „Letztes Wort“ des EGMR
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Das BVerfG vertrat zwar die These vom „letzten Wort“ der deutschen Verfassung und damit des Karlsruher Gerichts.[15] Es behauptet einen nationalstaatlichen Souveränitätsvorbehalt, nach dem als Grenze für die völkerrechtsfreundliche Auslegung gelten soll ein drohender Verstoß gegen Grundsätze der Verfassung, vor allem durch eine Einschränkung des Grundrechtsschutzes des Grundgesetzes.[16] Die Völkerrechtsfreundlichkeit gelte nur „im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems der Grundgesetzes“. Sie dürfe insbesondere „nicht dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird.“ Das BVerfG hält sich dadurch die Möglichkeit offen, im Rahmen der postulierten allgemeinen „Berücksichtigungspflicht“ dennoch zu dem Ergebnis zu kommen, dass im Einzelfall eine Entscheidung des EGMR nicht zu beachten ist.
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Soweit es allein darum geht, dass sich Karlsruhe ein „Mehr an Grundrechtsschutz“ vorbehält, ist der Vorbehalt im Prinzip zu rechtfertigen. Eine nennenswerte praktische Bedeutung wird ihm jedoch nicht zukommen. Schließlich besteht weitgehend Übereinstimmung zwischen den Gerichten bei der Interpretation der Grund- und Menschenrechte. Dies gilt vor allem bei der separaten Bestimmung der jeweiligen grundrechtlichen Schutzbereiche. Als konfliktträchtig hat sich hingegen erwiesen die Auflösung von Interessenskollisionen, an denen mehrere Grundrechtsträger beteiligt sind. Paradigmatisch hierfür steht die Auseinandersetzung um die Caroline von Monaco-Entscheidungen deutscher Gerichte, einschließlich des BVerfG, auf der einen und des EGMR[17] auf der anderen Seite. Während die deutschen Gerichte im Konflikt die Pressefreiheit stärker gewichteten, tendierte der EGMR zu einer Bevorzugung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. In solchen mehrpoligen Menschenrechtsverhältnissen kann und sollte der EGMR in der Tat entsprechend der „Mahnung“ des BVerfG Zurückhaltung walten lassen, wie er dies mit der „margin of appreciation“-Doktrin ebenfalls praktiziert.[18]
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Wenn es jedoch bei der Rechtsprechungskonkurrenz von EGMR und BVerfG zu echten Konflikten[19] kommt, dann steht das „letzte Wort“ – entgegen Voßkuhle[20] – eindeutig dem Straßburger Gericht zu.[21] Schließlich ist der EGMR die letzte Instanz und kann er angerufen werden nach einer abschlägigen Entscheidung des BVerfG, dessen Entscheidung der EGMR ebenfalls prüft. Zwar haben die Entscheidungen des EGMR keine die Rechtskraft beseitigende, sondern nur eine feststellende Wirkung[22] und richten sich die Rechtsfolgen nach nationalem Recht. In die Prozessordnungen sind aber entsprechende Tatbestände – wie z.B. § 580 Nr. 8 ZPO – für eine Wiederaufnahme des Verfahrens bei einer positiven Entscheidung des EGMR eingefügt worden.[23] Mit einer Wiederaufnahme wird aber auch die Entscheidung des BVerfG „kassiert“. Die Überwindung der Rechtskraft seiner eigenen Entscheidungen hat das BVerfG in der Grundsatzentscheidung zur Sicherungsverwahrung[24] im Leitsatz 1 auch endlich eingeräumt:
„Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, stehen rechtserheblichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können.“
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Die vom BVerfG – noch – gemachten Einschränkungen – wie der erwähnte nationalstaatliche Souveräntitätsvorbehalt oder dass die Entscheidungen des EGMR „neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes“ enthalten – sind letztlich irrelevant angesichts der völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands zur Beachtung der EMRK und der Entscheidungen des EGMR, welcher in den Wiederaufnahmebestimmungen in den Prozessordnungen Rechnung getragen worden ist. Auch für das BVerfG gilt im Verhältnis zum EGMR das US-amerikanische Diktum: „We are under a Constitution, but the Constitution is, what the judges say it is.“[25]
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Der ganzen Diskussion zum Verhältnis BVerfG/EGMR bzw. Grundgesetz/EMRK würde ohnehin der Boden in erheblichem Umfang entzogen, wenn die EU – wie in Art. I-9 Abs. 2 S. 1 des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents vorgesehen – der EMRK beitritt. Auf diese Weise wäre auf dem direktesten Weg die Letztinstanzlichkeit des EGMR geschaffen und die bloße Instanzlichkeit des BVerfG als schlichtes „Landesverfassungsgericht eines Mitgliedstaates“ klargestellt.
dd) Konsequenz für das Verfassungsbeschwerdeverfahren
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Für die Verfassungsbeschwerdepraxis ist von entscheidender Bedeutung, dass der Beschwerdeführer nunmehr auch in einer Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Menschenrechten der EMRK bzw. einen Verstoß gegen Entscheidungen des EGMR rügen kann. Zwar ist nach dem BVerfG die EMRK weiterhin (noch) nicht unmittelbar Prüfungsmaßstab in Verfassungsbeschwerdeverfahren, da sie keinen Verfassungsrang hat.[26] Der EMRK kommt aber im Rahmen anderer Grundrechte des „völkerrechtsfreundlich“ auszulegenden Grundgesetzes i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung als „Auslegungshilfe“ zu.[27] Entscheidend und für die Verfassungsbeschwerdepraxis von großer Bedeutung ist, dass nach dem BVerfG Verstöße gegen die Einhaltung der EMRK wie auch die Beachtung der Entscheidungen des EGMR mit der Verfassungsbeschwerde und der Rüge der Verletzung des im konkreten Fall einschlägigen Grundrechts i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip geltend gemacht werden können.[28]
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Beispiel
BVerfGE 111, 307 ff. – Görgülü:Im konkreten Fall hatte der EGMR (Urt. v. 26.2.2004 – Nr. 74969/01) zugunsten des Kindesvaters eine Entscheidung im Hinblick auf das Umgangsrecht gefällt. Das OLG Naumburg hatte sie aber mißachtet. Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde des Vaters wegen Verletzung des Art. 6 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip statt. Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehöre die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR.
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Der Beschwerdeführer muss also einen Verstoß gegen das in seinem Schutzbereich berührte Grundrecht des Grundgesetzes i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip[29] – also z.B. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG – rügen.[30] Dann prüft das BVerfG auch die EMRK und detailliert die Judikatur des EGMR im Rahmen anderer Grundrechte des Grundgesetzes.[31]
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