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Nicht besonders hilfreich ist auch die zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes und zur Entlastung des EuGH geschaffene 1. Instanz (EuG). Sie entscheidet über Klagen natürlicher oder juristischer Personen gegen Gemeinschaftsorgane, wobei es sich inhaltlich in der Mehrheit um Beamten-, Wettbewerbs- und Dumpingstreitigkeiten handelt.[48] Der EuGH ist in diesen Rechtssachen Rechtsmittelinstanz.
cc) Vorabentscheidungsverfahren
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Die Rechtsuchenden sind beim Grundrechtsschutz auf EU-Ebene vorrangig darauf angewiesen, dass die tätig werdenden nationalen Gerichte ggfs. den EuGH – vor allem durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV – anrufen.
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Vorlageberechtigt ist ein „Gericht“ eines Mitgliedstaates. Die zulässige Vorlagefrage kann die Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts und damit auch die Vereinbarkeit mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bzw. der EMRK betreffen. Die Frage muss entscheidungserheblich sein. Art. 267 Satz 2 AEUV räumt den nationalen Gerichten eine Vorlageberechtigung ein. Eine Verpflichtung zur Vorlage besteht nur nach Art. 267 Satz 3 AEUV.[49] Für den Rechtsuchenden bestehen aber keine prozessualen Möglichkeiten, ein nationales Gericht zur Vorlage nach Art. 267 AEUV zu zwingen. Das nationale Gericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob es die gemeinschaftsrechtliche Frage dem EuGH vorlegt oder nicht.
dd) Verfassungsbeschwerde bei Verletzung der Vorlagepflicht
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Soweit nach Art. 267 Satz 3 AEUV das nationale Gericht[50] von Amts wegen gehalten ist, den EuGH anzurufen,[51] kann eine Verletzung der Vorlagepflicht mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG gerügt werden,[52] falls entsprechend der Subsidiaritätsregelung des § 90 Abs. 2 BVerfGG die Vorlage im fachgerichtlichen Verfahren gefordert wurde.[53] Der EuGH ist gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das BVerfG überprüft allerdings – dazu ausf. unter Rn 1133 ff.– nur, ob die Vorlagepflicht in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt worden ist.
c) Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit
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Soweit jedoch Grund- und Menschenrechte auf der Ebene der EU Geltung beanspruchen können, sind sie für alle nationalen Behörden und Gerichte verbindlich. Es bestehen hier nicht die Unsicherheiten wie im Verhältnis EMRK und Grundgesetz. Das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang vor dem deutschen Recht, einschließlich der Grundrechte. Grundsätzlich bricht europäisches Gemeinschaftsrecht auch nationales Recht und damit auch nationales Verfassungsrecht.
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Der EuGH hat den Vorrang des Unionsrechts schon 1964 in der Costa/ENEL-Entscheidung betont.[54] Ohne den unbedingten Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungs-[55] und Gesetzesrecht könne eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht gesichert werden. Sie sei aber ihrerseits Bedingung von dessen Funktionsfähigkeit. In der Winner-Wetten-Entscheidung[56] aus dem Jahre 2010 hat der EuGH seine Position noch einmal bekräftigt unter Betonung der aus Art. 4 III EUV folgenden Verpflichtung der mitgliedschaftlichen Gerichte zur Beachtung des Anwendungsvorrangs. Dem steht nicht entgegen, dass der Vorrang nicht in die Verträge – wie nach dem Entwurf des Verfassungsvertrags beabsichtigt – aufgenommen wurde.[57] Auch das BVerfG hat am Maßstab des deutschen Rechts – z.B. in der Honeywell-Entscheidung[58] – ausdrücklich den Anwendungsvorrang des EU-Rechts als funktionale Notwendigkeit mit dem Verweis auf Art. 23 GG anerkannt, der ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen beinhalte.[59]
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Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts führt auch zu einem Vorrang der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit wie des EuGH vor der nationalen Gerichtsbarkeit einschließlich des BVerfG.
bb) Zuständigkeit des EuGH
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Für einen wirksamen Schutz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht ist somit letztinstanzlich – neben dem EGMR – allein der EuGH zuständig. Ein einzelfallbezogener Grundrechtsschutz gegen Sekundärrecht kann jedenfalls in aller Regel nur noch vor dem EuGH eingeklagt werden. Der EuGH bejaht die Einschlägigkeit der Unionsgrundrechte nicht nur für den Fall, dass Organe der Union tätig werden. Auch die Mitgliedstaaten und ihre Organe sind vielmehr an die unionalen Grundrechte gebunden, sofern sie im „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ tätig werden.[60] In der Lesart des EuGH besagt dies, dass das nationale Verfassungsrecht mitsamt seinen grundrechtlichen Verbürgungen als Prüfungsmaßstab zurücktreten muss.[61]
cc) Keine Grundrechtsbindung der EU-Organe
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Da nach Art. 1 Abs. 3 GG nur die deutsche öffentliche Gewalt an die Grundrechte gebunden ist, unterliegen auch die EU und ihre Organe keiner Grundrechtsbindung. Entsprechend fehlt dem BVerfG in jedem Fall die Kontrollkompetenz für Akte von EU-Organen.[62] Vor allem unmittelbar in Deutschland anwendbares europäisches Gemeinschaftsrecht – wie eine Verordnung und zukünftig ein „Europäisches Gesetz“ – kann nach § 90 BVerfGG weder Prüfungsgegenstand noch Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde sein.[63]
dd) Deutsche Vollzugsakte
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Aber auch deutsche Ausführungs- und Vollzugsakte des EU-Rechts können nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG nicht am Maßstab des Grundgesetzes und der Grundrechte vom BVerfG überprüft werden.[64]
(1) Zwingende Vorgaben des Unionsrechts
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Sie könnten zwar über den Umweg einer deutschen Anwendungsmaßnahme, d.h. nationale Hoheitsgewalt, zum Prüfungsgegenstand des BVerfG werden.[65] Schließlich handelt bei der Umsetzung und Vollziehung von Maßnahmen der Union deutsche staatliche Gewalt i.S.v. Art. 1 Abs. 3 GG. Andererseits darf die auf Unionsrecht beruhende Verpflichtung, Unionsrecht zu vollziehen und umzusetzen, nicht dadurch unterlaufen werden, dass über den Umsetzungs- oder Vollzugsakt sekundäres Unionsrecht am Maßstab der Grundrechte überprüft wird. Soweit daher das Unionsrecht den Mitgliedstaaten zwingende Vorgaben macht, ist es nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen. Aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts fehlt dem BVerfG letztlich die Zuständigkeit, auf Gemeinschaftsrecht gestützte Akte deutscher Behörden und Gerichte am Maßstab des Grundgesetzes und damit der Grundrechte zu messen. Zudem sind die Gerichte verpflichtet, zuvor den EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren auch zur Frage der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit EU-Grundrechten zu konsultieren.[66]
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Dementsprechend haben z.B. die deutschen Verwaltungsgerichte[67] die Solange-II-Rechtsprechung mit dem Verzicht des BVerfG auf eine Kontrolle von unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht wie Verordnungen auf richtliniengebundene Gebots- und Verbotsnormen des nationalen Verwaltungsrechts übertragen. Das BVerfG[68] hat diese Rechtsprechung u.a. in Entscheidungen zum Hamburger Ärztegesetz,[69] und zur Futtermittelverordnung[70] gebilligt, ohne dabei wie in der Literatur zum Teil gefordert[71] zu differenzieren zwischen den Fällen, in denen eine Richtlinienbestimmung ausnahmsweise nach Maßgabe der EuGH-Rechtsprechung unmittelbare Rechtswirkung gegenüber bzw. zu Gunsten des Einzelnen erzeugt.
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Bei nationalen Umsetzungsmaßnahmen von Unionsrecht kann hingegen eine umfassende Kontrollkompetenz des BVerfG am Maßstab des GG beansprucht werden, wenn die umzusetzende Regelung nicht europarechtlich determiniert war, sondern Ermessensspielräume offenhält. Räumt also das Unionsrecht den deutschen Organen – wie etwa bei der Umsetzung von Richtlinien oder im Rahmen einer Ermächtigung des primären Unionsrechts – einen Spielraum ein, steht die deutsche Maßnahme nicht unter zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben. In diesem Fall besteht daher eine uneingeschränkte Grundrechtsbindung nach Maßgabe der Art. 1 Abs. 3 GG nachfolgenden Grundrechten.
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