95
Diese Kontrollvorbehalte des BVerfG blieben jedoch folgenlos. Das BVerfG hatte im Alcan-Beschluss[86] den Vorrang des Gemeinschaftsrechts – jedenfalls vor einfachem deutschen Recht – betont und bestimmte Formen von Richterrecht des EuGH gebilligt, wie die Regeln über den Widerruf rechtswidriger Gemeinschaftsbeihilfe. Auf der gleichen Linie liegen andere Folgeentscheidungen des BVerfG wie z.B. der 2. Bananenmarktordnungsbeschluss vom 7.6.2000.[87]
96
Im heftig kritisierten Lissabon-Urteil[88] bejahte das BVerfG zwar die Verfassungskonformität des Lissaboner Vertrages und rügte nur partiell als verfassungswidrig die deutschen Umsetzungsgesetze. Wie bereits im Maastricht-Urteil stellte es jedoch seine eigene Prüfungskompetenz bezüglich der Entwicklung der Europäischen Union heraus unter Abstellung auf den nationalen Rechtsanwendungsbefehl durch das deutsche Zustimmungsgesetz, mit dem das Unionsrecht, dem kein autonom-europarechtlicher Vorrang zukomme, in Deutschland Rechtswirkung entfalte.[89] Der somit maßgebliche Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung könne aber durch „verfassungsrechtliche Integrationsschranken“ begrenzt werden.
97
Das Gericht beanspruchte für sich vor allem folgende – wenn auch „europafreundlich“ wahrzunehmende – Kontrollkompetenzen, welche es aus Art. 38 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 23 und 59 Abs. 2 GG und vor allem Art. 79 Abs. 3 GG herleitet.
98
Es beharrte auf der im Maastricht-Urteil herausgestellten Ultra-vires Kontrolle im Hinblick auf das Handeln der EU-Organe, beschränkte sie aber auf offensichtliches und erhebliches kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt. Weiter beanspruchte das BVerfG eine Kontrollkompetenz im Hinblick auf die Sicherung der demokratischen Legitimation sowie eine „Identitätskontrolle“: Damit solle geprüft werden, ob bei einer weiteren Kompetenzverlagerung auf die EU dem deutschen Verfassungsstaat noch hinreichend Kompetenzen verbleiben. Es seien – so das BVerfG – Grenzen des europäischen Integrationsprozesses erkennbar geworden, die nicht überschritten werden dürften. Dazu zählte es bestimmte „integrationsfeste“ Gebiete auf, die dem Zugriff der Europäischen Union dauerhaft entzogen bleiben müssten; dabei komme ihm ein Letztentscheidungsrecht zu.
99
Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG – so zu recht Schwarze [90] – war aber nicht notwendig gewesen, um die Durchsetzung der Verfassungsgebote des Grundgesetzes gegenüber dem europäischen Integrationsprozess zu sichern. Die Interpretation des deutschen Verfassungsrechts war weder angemessen noch wurde sie im Hinblick auf die Anforderungen der europäischen Integration vorgenommen.
100
Auch der Lissabon-Entscheidung folgten keine „Taten“ des BVerfG.
101
Beispiel
BVerfGE 126, 286 – Honeywell:In dem Beschluss des BVerfG v. 6.7.2010[91] (Honeywell) ging es um die Frage, ob der EuGH in der Mangold-Entscheidung jedenfalls insofern ultra vires gehandelt hatte, als er sich über den fehlenden Ablauf der Umsetzungsfrist hinwegsetzte; insofern kommt die Auslegung einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleich. Das wurde von der abweichenden Meinung eines Richters und einem großen Teil der Literatur bejaht. Das BVerfG lockerte stattdessen den rigiden Lissabonner-Grenzkatalog unter ausdrücklicher Anerkennung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts.[92] Es hielt zwar an der Ultra-vires-Kompetenz fest, betonte aber zugleich die Notwendigkeit ihrer europarechtsfreundlichen Praktizierung. Als neues Kriterium führte es ein das des „hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoßes“. Er liege aber nur vor, wenn er erstens „offensichtlich“ ist und zweitens „der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt.“
102
Im ESM-Vertrag/Fiskalpakt-Urteil vom 12.9.2012[93] hat das BVerfG mit der Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung seine Kontrollkompetenz in Sachen Europäische Union weiter eingeschränkt. Relevante Schranken, welche Verfassungsbeschwerden zum Erfolg verhelfen könnten, sind jedoch nach dieser Entscheidung – entgegen Voßkuhles[94] These, das Gericht habe „das Phänomen des ESM … funktionsadäquat in den Griff bekommen“ – noch weniger erkennbar. Dem mit der Entscheidung des BVerfG – wenn auch im Verfahren nach § 32 BVerfGG – verbundenen Kontrollverzicht entspricht die Entscheidung des EuGH im Verfahren Pringle/Irland vom 27. November 2012.[95] Darin hat er deutlich zu erkennen gegeben, dass die Zuständigkeit in europäischen Grundsatzfragen vorrangig in Luxemburg liegt.[96]
103
Festzustellen ist, dass die vom BVerfG noch beanspruchten Kontrollvorbehalte in Fragen des angemessenen Grundrechtsschutzes und der beiden Bereiche der Ultra-Vires-Problematik sowie der Verfassungsidentität weitgehend Theorie sind. Darauf gestützte Verfassungsbeschwerden haben keine nennenswerte Erfolgsaussicht.
cc) Vorlagepflicht des BVerfG
104
Die Aussichts- und Bedeutungslosigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen deutsche Akte im Rahmen der europäischen Integration wird auch noch dadurch erhöht, dass das BVerfG in der längst überfälligen Respektierung der vorrangigen Stellung des EuGH sich nicht mehr unmittelbar die Entscheidungskompetenz bezüglich der Annahme eines Ultra-vires-Aktes der europäischen Organe und Einrichtungen zugesteht.[97] Vielmehr sei zuvor „dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen.“[98]
105
Die Vorlagepflicht hatte das BVerfG in der Vergangenheit nur abstrakt bejaht.[99] Noch im Lissabon-Urteil findet sich die „stillschweigende Weigerung des BVerfG, am Vorlageverfahren zum EuGH teilzunehmen“.[100] Man scheute ihre Erfüllung wie der „Teufel das Weihwasser“. Andere vergleichbare Gerichte wie der Conseil d`Etat, die belgischen, niederländischen, luxemburgischen, irischen, griechischen, schwedischen, finnischen und dänischen obersten Gerichte oder auch – früher -das House of Lords sowie das Österreichische Verfassungsgericht, welche vorgelegt haben, kannten die unverständlichen Karlsruher Berührungsängste nicht. Das BVerfG hat dabei verkannt, dass es sich durch die Nichtvorlage an den EuGH aus entscheidenden Diskussionen in Fragen der europäischen Integration „ausklinkt“. „Wer (aber) vorlegt, der bestimmt die Debatte.“[101] Wer die Initiative ergreift, hat den Vorteil, dass die Debatte unter den Bedingungen des Vorlagegerichts geführt wird.[102] Dies zeigt der Fall des belgischen Verfassungsgerichts, welches durch seine Vorlage das EuGH-Urteil zu den Unisex-Versicherungstarifen 2011 veranlasst hat.
106
Das BVerfG vermeidet in seiner mehr als ambivalenten Rechtsprechung[103] bei seinem Taktieren den offenen Konflikt mit dem EuGH. Es könnte ihn nur verlieren mit der Folge, dass ihm auch noch schriftlich aus Luxemburg das Fehlen einer Letztentscheidungskompetenz in Sachen europäische Integration bescheinigt wird. Letztlich ging es dem Gericht ohnehin weniger um die Grundrechte der Bürger sondern um seine eigene Stellung im Gefüge der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeiten. Die bereits in der Vorauflage dieses Buches deutlich geübte Kritik an der Judikatur des BVerfG zur europäischen Integration ist jedenfalls durch die in den letzten Jahren ergangenen Entscheidungen in vollem Umfang bestätigt worden. Man kann nur hoffen, dass das BVerfG endlich seinen Irrweg in Sachen europäische Integration beendet. Von seinem einst reklamierten Letztentscheidungsrecht ist nichts praktisch Relevantes übriggeblieben.[104]
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