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Beispiel
BVerfG Beschl. v. 14.3.2012 – 2 BvR 2405/11 – Sicherheitsverfügung:Hier ging es um die Verfassungs- und Menschenrechtskonformität einer Sicherheitsverfügung eines Gerichts. Das BVerfG führte u.a. aus: „Der Beschwerdeführer ist auch nicht in seinem Recht auf ein faires Strafverfahren (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. (...) Die Sicherheitsverfügung widerspricht schließlich nicht den Anforderungen an eine öffentliche Verhandlung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (vgl. zu deren Berücksichtigung BVerfGE 111, 307, 315 ff.; 128, 326, 366 ff.). (...) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleistet das Recht auf eine öffentliche Verhandlung. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz EMRK kann die Öffentlichkeit während des ganzen oder eines Teils des Verfahrens ausgeschlossen werden – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält –, wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde (...)“.
d) Individualbeschwerde zum EGMR
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Wenn Beschwerdeführer vor den nationalen Fachgerichten und beim BVerfG gescheitert sind, können sie Individualbeschwerde zum EGMR einlegen, Art. 35 EMRK. Sie sollten aber hier nicht nur bedenken, dass dieses Gericht mit ca. 131.000 Altverfahren – vor anderthalb Jahren waren es aber noch 160.000[32] – immer noch völlig überlastet ist. Zudem ist auch dieser außerordentliche Rechtsbehelf ebenso wie die Verfassungsbeschwerde nur in seltensten Fällen erfolgreich; die Erfolgsquote liegt ca. bei 2,5 %.[33]
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Vor allem aber unterliegt die Anrufung des EGMR zudem zahlreichen Beschränkungen.[34] So ist seine Prüfung auf die EMRK und der Zusatzprotokolle beschränkt. Die EMRK enthält keinen so umfassenden Schutz von Menschenrechten wie das Grundgesetz. Auch darf nicht übersehen werden, dass Individualbeschwerden nicht selten daran scheitern, dass der EGMR auf eine unterschiedliche Rechtslage in den Mitgliedstaaten Rücksicht nimmt. Seine Entscheidungskompetenz wird durch die „margin of appreciation“-Doktrin beschränkt.
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Ungeachtet der Beschränkung der Kompetenz des EGMR auf die Prüfung von Menschenrechtsverletzungen kann – nach erfolgloser Anrufung des BVerfG – die Einschaltung des Straßburger Gerichts in der Praxis aus verschiedenen Gründen in Betracht kommen.[35]
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Voraussetzung sollte aber stets sein, dass zentraler Rügepunkt die Verletzung der Menschenrechte ist und nicht nur der verlorene fachgerichtliche Prozess fortgeführt wird, wie das leider vielfach der Fall ist und oftmals angesichts der fehlenden Einsicht auf der Mandantenseite auch Rechtsanwälte nicht verhindern können. |
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Die Anrufung des EGMR – dazu unter Rn. 1531 ff.– nach einer erfolglosen Verfassungsbeschwerde kommt vor allem in Betracht bei einer defizitären Grundrechtsauslegung des BVerfG, wie sie z.B. vom EGMR gerügt wurde, bei überlanger Verfahrensdauer (Art. 6 EMRK), bei der Sicherungsverwahrung, im Ehe- und Familienrecht oder auch im Jahre 2012 im Hinblick auf das deutsche Jagdrecht. |
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Die Anrufung des EGMR mittels Individualbeschwerde liegt auch und vor allem dann nahe, wenn das BVerfG – hier zumindest einige Kammern – Verfassungsbeschwerden nicht annehmen aus formalen Gründen. In vielen Fällen ist die Nichtannahme durch das BVerfG sachlich nicht zu rechtfertigen, so dass Beschwerdeführern nichts anderes übrig bleibt, als nach dem Scheitern in Karlsruhe den EGMR anzurufen, soweit die Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Das gilt vor allem bei der von einigen Kammern des BVerfG praktizierten exzessiven Auslegung der sich aus den §§ 23, 92 BVerfGG ergebenden Pflicht zur Begründung der Verfassungsbeschwerde,[36] deren Herausstellung oftmals nur als Vorwand für eine mangelnde „Entscheidungsbereitschaft“ in „Karlsruhe“ dient.[37] |
1› IV› 2. Europäische Union
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Zwar ist mittlerweile auch auf der Ebene des Rechts der EU materiell-rechtlich eine weitgehende Geltung von Grund- und Menschenrechten sichergestellt. Sie binden auch die nationalen Behörden und Gerichte, das BVerfG eingeschlossen.
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Der Bürger ist jedoch darauf beschränkt, sie vor den nationalen Fachgerichten geltend zu machen, welche dann z.B. nach Art. 267 AEUV den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren anrufen können. Es stehen aber keine Rechtsbehelfe wie mit der Verfassungsbeschwerde oder der Individualbeschwerde zur Verfügung, welche dem Betroffenen die Möglichkeit einräumen, selbst den EuGH anzurufen.
a) Grundsätzliche Geltung von Grundrechten auf EU-Ebene
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Die materiell-rechtliche Geltung von Grund- und Menschenrechten innerhalb der EU ergibt sich aus unterschiedlichen Rechtsgrundlagen. Der EUV nimmt in Art. 6 ausdrücklich auf die Grund- und Menschenrechte Bezug, enthält aber selbst keinen geschriebenen Katalog von Grundrechten. Den Kern des Grundrechtsschutzes im Unionsrecht bilden daher die Charta der Grundrechte, die Grundfreiheiten (bzgl. Diskriminierungen im Rahmen grenzüberschreitender Transaktionen; Art. 28 ff., 45 ff., 63 ff. AEUV) sowie die richterrechtlich vom EuGH entwickelten Unionsgrundrechte.
aa) Grundrechtsschutz im EUV und AEUV
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Zu den in Art. 2 S. 1 EUV festgeschriebenen Werten, auf die sich die Union gründet, zählen u.a. die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit, die Gleichheit, die Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
bb) Rechtsprechung des EuGH
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Unter Heranziehung der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquellen hat der EuGH ungeschriebene Grundrechte und rechtsstaatliche Verfahrensgarantien als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts entwickelt. Die EMRK und die sie konkretisierende Rechtsprechung des EGMR treten dabei immer deutlicher in den Vordergrund; mitunter rekurriert der EuGH unmittelbar auf die Bestimmungen der EMRK und entsprechende Urteile aus Straßburg.
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Der EuGH hat folgende einzelne Gemeinschaftsgrundrechte festgestellt und in konkreten Fällen angewandt[38]: Menschenwürde, Unversehrtheit, Achtung der Privatsphäre, der Wohnung und des Briefverkehrs, Gleichheitsgrundsatz (als Grundsatz der Chancengleichheit), Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Handelsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentum, Schutz der Wohnung, das Verbot von Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts, allgemeiner Gleichheitssatz, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, ferner das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen. Als rechtsstaatliche Verfahrensgarantien sind anerkannt das faire Verfahren, der Grundsatz nemo tenetur, d as Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das Recht auf rechtliches Gehör“ sowie das Prinzip „ne bis in idem“. Der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Straftat und Strafmaß (vgl. Art. 49 Abs. 3 EUCh) ist ebenfalls schon durch die Rechtsprechung des EuGH festgeschrieben.
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Seit 2006 – also noch vor ihrer Rechtsverbindlichkeit durch den Vertrag von Lissabon – erkennt der EuGH auch der am 7.12.2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) eine mittelbare Rechtserheblichkeit zu. Durch den Reformvertrag von Lissabon hat die Charta eine deutliche Aufwertung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand erfahren. Der (gegenüber der ursprünglichen Version aktualisierte) Text der Charta (2007/C 303/01) ist zwar nicht Teil von EUV/AEUV; durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV wird die Charta aber den Verträgen (EUV, AEUV) gleichgestellt und somit als Teil des EU-Primärrechts rechtsverbindlich. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wird außerdem die EMRK zu einem Mindeststandard erklärt, hinter dem die Unionsorgane bei der Anwendung der GRC nicht zurückbleiben dürfen.
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