380
Anders kann es nach Auffassung des BVerfG sein, wenn Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung ein Verwaltungsakt ist, dessen Erlass der Beschwerdeführer „provoziert hat, um im Gerichtszug im Wege der Inzidentkontrolle eine Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.“[107] In einem solchen Fall versucht der Beschwerdeführer, die Möglichkeiten verfassungsgerichtlicher Normenprüfung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde zu erweitern.
381
In besonderen Fällen kann eine Verfassungsbeschwerde auch dann zulässig sein, wenn nur eine – wenn auch ernsthaft zu besorgende – Grundrechtsgefährdung vorliegt. Die Gefährdung muss eine verletzungsgleiche Beeinträchtigung hervorrufen.
382
Beispiel
BVerfGE 51, 324, 347: Bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit eines kranken Angeklagten sind z.B. Befürchtungen bezüglich seines Gesundheitszustandes ausreichend, wenn ein schwerwiegender Schaden an seiner Gesundheit droht.[108]
BVerfGE 49, 89, 141: Auch Regelungen, die im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führen können, können selbst schon mit dem Grundgesetz in Widerspruch geraten.[109]
383
In seinen rentenrechtlichen Entscheidungen argumentiert das BVerfG, dass diese Vorschriften derart häufig geändert würden, dass eine gewisse Ungewißheit sozusagen ohnehin dazugehöre, wie denn die Rechtslage bei Erreichung des Rentenalters sei. Die im Regelfall nur vorliegende „virtuelle“ Betroffenheit „irgendwann in der Zukunft“ reiche nicht aus für eine Beschwerdebefugnis.[110] Eine gegenwärtige Betroffenheit liegt aber vor, wenn „bei normalem Ablauf des Arbeitslebens“ mit einiger Wahrscheinlichkeit eine konkrete Entwicklung der beruflichen Laufbahn und der Altersvorsorge anzunehmen und vorhersehbar ist, d.h. wenn später Regelungen gelten sollen, die zu einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung führen.[111] Nicht ausreichend ist aber, dass allenfalls zu einem noch ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft eine Betroffenheit gegeben sein könnte.[112]
384
Die Rechtsprechung macht von dem Grundsatz der Gegenwärtigkeit dann eine Ausnahme, falls andernfalls der Rechtsschutz nach einem Inkrafttreten zu spät kommen würde. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Beschwerdeführer im Hinblick auf das neue Gesetz bereits vor dessen Inkrafttreten zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen oder schon jetzt zu Dispositionen veranlasst wird, die er nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen kann.[113] Gleiches gilt, wenn der Beschwerdeführer ansonsten Gefahr laufen würde, eine Frist zu versäumen[114] oder wenn er – wie z.B. bei einer Rasterfahndung[115] – keine Kenntnis von der Maßnahme erlangt, er also von dem Eingriff in seine Rechte nichts erfährt.[116]
385
Am Erfordernis der gegenwärtigen Betroffenheit kann es fehlen, wenn sich der Hoheitsakt erledigt hat, z.B. weil ein Urteil aufgehoben worden ist. Schließlich setzt die Beschwerdebefugnis voraus, dass der Beschwerdeführer noch – also aktuell – betroffen ist. Ausnahmsweise kann jedoch auch im Falle der Erledigung eine Verfassungsbeschwerde zulässig sein, falls das erforderliche – Rechtsschutzbedürfnis[117] besteht.
386
Soweit Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze eingelegt wird, muss der Beschwerdeführer ebenfalls geltend machen, selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen zu sein (sog. Betroffenheitstrias).[118] Besondere Bedeutung kommt hier anders als im Regelfall der Urteilsverfassungsbeschwerde dem Kriterium der „Unmittelbarkeit“ zu.
387
Bei Gesetzen erfordert die Selbstbetroffenheit, dass der Beschwerdeführer dem Grundsatz nach Normadressat ist.[119] Dies ist der Fall, wenn der normierte Tatbestand durch die Person des Beschwerdeführers erfüllt wird und daraus Rechte oder Pflichten für ihn entstehen; es reichen nicht bloße Reflexwirkungen bzw. nur faktische Beeinträchtigungen.[120] Es ist durch Auslegung der Personenkreis zu ermitteln, der Adressat der Regelung ist[121] bzw. der dadurch nachteilig betroffen wird; das kann auch der Fall sein bei einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn gerügt wird von einem Nichtadressaten, nicht in den Kreis der begünstigten einer Norm aufgenommen worden zu sein.[122] Ein Nichtadressat kann jedenfalls selbst betroffen sein, wenn eine hinreichend enge rechtliche Beziehung zwischen seiner Grundrechtsposition und dem angegriffenen Gesetz besteht. Die Voraussetzung der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist grundsätzlich erfüllt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Vorschriften beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird.[123]
388
Beispiel
Dies war bei der Verfassungsbeschwerde gegen die Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz der Fall, weil die Beschwerdeführer glaubhaft dargelegt hatten, dass sie aus privaten und beruflichen Gründen häufig zivile Luftfahrzeuge benutzen.[124] Wähler werden durch ein Gesetz selbst betroffen, das sie in ihren Wahlchancen benachteiligt.[125] Die Selbstbetroffenheit von Zahntechniker-Meistern wurde bejaht bei einer Herabsetzung der Vergütung für zahntechnische Leistungen, auch wenn sie nicht Vertragspartner der Vergütungsvereinbarung waren.[126] Das Ladenschlussgesetz betrifft auch den Verbraucher.[127] Wirtschaftlich Tätige sind selbst betroffen, wenn ein Steuergesetz Konkurrenten begünstigt.[128]
389
Die Grundrechtsposition des Beschwerdeführers muss unmittelbar zu seinem Nachteil verändert werden. Dies wurde vom BVerfG[129] bejaht im Hinblick auf die Evangelische Landeskirche bzgl. der an Ladeninhaber gerichteten Sonntags-Öffnungsregelungen. Auch betraf die an die Dienstanbieter gerichtete gesetzliche Pflicht zur Speicherung von Telekommunikationsdaten die Nutzer selbst, weil die Diensteanbieter rechtlich unbedingt zur Speicherung der Daten der Nutzer verpflichtet waren.[130]
390
Richtet sich eine Norm an eine bestimmte Berufsgruppe, dann muss der Beschwerdeführer ausreichende Angaben dazu machen, ob er nach Ausbildung und nach Art und Umfang seiner konkreten beruflichen Betätigung zu dieser Gruppe gehört.[131]
391
Der Beschwerdeführer muss eine gegenwärtige Beschwer durch das angegriffene Gesetz substantiiert behaupten.[132] Die Beschwer muss schon und noch vorhanden sein; die Norm muss aktuell und nicht nur virtuell auf seine Rechtsstellung einwirken.[133]
392
Da nur Recht, das mit dem Anspruch formaler Gültigkeit auftritt, Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein kann, ist eine präventive Normenkontrolle ausgeschlossen. Dass über dem Erfordernis der Gegenwärtigkeit der Betroffenheit die Jahresfrist für die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze (§ 93 Abs. 2 BVerfGG) verstreichen kann, ist hinzunehmen, zumal später zumindest noch die Inzidentprüfung des Gesetzes nach Erschöpfung des Rechtsweges im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde möglich ist.
393
Im Prinzip kann von einer aktuellen Beschwer nur gesprochen werden, wenn das Gesetz bereits in Kraft getreten ist.[134] Mindestens muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG das Gesetzgebungsverfahren vollständig abgeschlossen und auch die Verkündung erfolgt sein.[135]
394
Ausnahmen vom Verkündungserfordernis[136] sind anerkannt bei Transformationsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen, da letztere durch die Gesetze nicht nur in innerstaatliches Recht transformiert werden, sondern zugleich der Vertrag wirksam wird; hier reicht das Zustandekommen des Gesetzes nach Art. 78 GG, so dass das Zustimmungsgesetz schon vor der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten (vgl. Art. 82 GG) und der Verkündung angegriffen werden kann.[137] Wenn effektiver Grundrechtsschutz bei Abwarten bis zur Verkündung andernfalls nicht gewährleistet ist, kann auch in anderen Fällen ausnahmsweise schon nach der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten Verfassungsbeschwerde und u.U. eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG beantragt werden, wenn der Inhalt des Gesetzes feststeht und die Verkündung unmittelbar bevorsteht.[138]
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