BVerfG NJW 2012, 1863 – Sicherheitsverfügung eines Gerichtspräsidenten, Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes: „Die Sicherheitsverfügung widerspricht schließlich nicht den Anforderungen an eine öffentliche Verhandlung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention… aa) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleistet das Recht auf eine öffentliche Verhandlung. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz EMRK kann die Öffentlichkeit während des ganzen oder eines Teils des Verfahrens ausgeschlossen werden – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält –, wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. Die durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK garantierte Öffentlichkeit des Verfahrens schützt die Rechtsunterworfenen vor einer Geheimjustiz, die sich öffentlicher Kontrolle entzieht. Sie ist außerdem ein Mittel, um das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit zu sichern (vgl. EGMR-E 2, 321 <325 f.>).
BVerfG Beschl. v. 20.6.2012 – 2 BvR 1048/11[22] – Sicherungsverwahrung: „Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung enthält auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht. Die Europäische Menschenrechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz. Sie ist jedoch als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Dies gilt auch für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. … Auch nach den demgemäß heranzuziehenden Wertungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK greift die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht unverhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht ein. Art. 5 EMRK enthält in Absatz 1 eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung (vgl. nur EGMR Urteil vom 17.12.2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 86, m.w.N.). Die Voraussetzungen des Haftgrundes nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK liegen nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB a.F. vor…“.
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Für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit kommt es nicht darauf an, ob sich die Fachgerichte schon im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung auf schon ergangene Entscheidungen des EGMR oder des BVerfG berufen können. Schließlich ist allein entscheidend die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG; nicht maßgeblich ist, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist.[23]
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Auch hat das BVerfG bei der Bestimmung der Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit einer deutschen Norm auf den Verstoß gegen die EMRK abgestellt. Eine unter normalen Umständen denkbare Fortgeltensanordnung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber kommt nicht in Betracht, wenn die Fachgerichte sonst Normen weiterhin anwenden würden, die vom EGMR schon für unvereinbar mit der EMRK erklärt worden sind.[24]
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Die Grundrechte auf der Ebene des EU-Rechts – dazu ausf. unter Rn. 51 ff., 57 ff.– wie z.B. die Dienst- und Niederlassungsfreiheit oder die vom EuGH in seiner Judikatur richterrechtlich anerkannten Menschenrechte sind für das BVerfG kein unmittelbarer Prüfungsmaßstab. Ebenso enthält die Europäische Grundrechtecharta, die nach dem EuGH[25] bei der Durchführung von Unionsrecht in nationalen Rechtsvorschriften gilt, zumindest keine unmittelbar im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügefähigen Rechte. Sie werden allenfalls als Auslegungshilfen herangezogen.[26] Wie oben dargelegt, muss hier aber das Gleiche gelten wie bei der Rüge der Verletzung der EMRK über den „Hebel“ eines Grundrechts des Grundgesetzes.
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Zudem ist das Recht der EU bei auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde bedeutsam, wenn Fachgerichte nicht dem EuGH unter Verstoß gegen EU-Recht – dazu ausf. unter Rn. 1133 ff.– gem. Art. 267 S. 3 AEUV vorgelegt haben.[27]
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Voraussetzung für eine Grundrechtsrüge ist stets, dass sie dem Beschwerdeführer ein subjektives Recht einräumen, was i.d.R. – nicht aber z.B. bei Art. 14 Abs. 2,[28] 15, 17a,[29] 20[30] GG[31] – der Fall ist. Auch die Art. 33 und 38 GG kommen als rügefähige Rechte bei Verfassungsbeschwerden nur in Betracht, soweit sie – wie Art. 33 Abs. 1–3 GG oder Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG – individuelle Rechte enthalten.
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So gewährt z.B. Art. 33 Abs. 2 GG dem Beamten ein grundrechtsgleiches Recht auf ermessens- und beurteilungsfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl.[32] Art. 33 Abs. 5 GG soll ein Grundrecht auf amtsangemessene Alimentation beinhalten.[33] Art. 33 Abs. 4 GG schützt hingegen nicht individuelle Beamten- und Verbeamtungsinteressen, sondern enthält insoweit nur einen objektivrechtlichen Funktionsvorbehalt zugunsten des Berufsbeamtentums.[34]
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Bei Parteien und Abgeordneten – dazu oben unter Rn. 254 ff.– kommen Verfassungsbeschwerde oder Organklage gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Frage, je nachdem, ob es um ihre Grundrechte (z.B. polizeiliches Redeverbot für einen MdB auf einer Versammlung) oder ihren verfassungsrechtlichen Status (z.B. Redeverbot für MdB im Parlament) geht. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG fehlt der Grundrechtscharakter, so dass die damit gewährleistete Rechtsstellung von Bundestagsabgeordneten nicht mit der Verfassungsbeschwerde, sondern nur mit der Organklage gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG verteidigt werden kann.[35] Gleiches gilt für Abgeordnete in Landesparlamenten.[36]
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Die Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG kann nur im Hinblick auf Bundestagswahlen mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Die Bestimmung kann nicht herangezogen werden bei Wahlen auf der Ebene der Länder.[37]
dd) Hauptfälle: Justizgrundrechte
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Von erheblicher Bedeutung sind bei Verfassungsbeschwerden die Prozessgrundrechte. Dies gilt u.a. für das Recht auf den gesetzlichen Richter des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG[38] – dazu unter Rn. 1116 ff.–, das u.a. bei Befangenheitsanträgen[39] oder bei der Verletzung von Vorlagepflichten[40] verletzt sein kann. Große Bedeutung kommt – trotz Anhörungsrüge (z.B. § 321a ZPO) – der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs zu,[41] dazu unter Rn. 1018 ff.In Betracht kommt weiter der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG, dazu unter Rn. 1059 ff.[42] Schließlich kann – dazu unter Rn. 1074 ff.– auch gerügt werden die Verletzung des Grundrechts auf faires Verfahren als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.[43] Bei Freiheitsentziehungen ist bedeutsam Art. 104 GG.[44]
ee) Art. 38 I 1 GG als Kontrollnorm bei Akten der europäischen Integration?
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Unhaltbar ist hingegen die Entwicklung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG durch das BVerfG seit der Maastricht-Entscheidung[45] und in der Folgezeit u.a. im Lissabon-Urteil[46] sowie zum ESM[47] zu einem „Superkontrollgrundrecht“ bei Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der europäischen Integration. Danach soll „jedermann“ gestützt auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, des Verlusts der Staatlichkeit der BRD, des Sozialstaatsprinzips[48] und eine Aushöhlung der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages geltend machen können.[49]
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Wie unter Rn. 89 ff.ausführlich dargelegt, überschreitet das BVerfG – bedingt durch seine staatsrechtlich verengte, europafeindliche Grundhaltung – mit der Berufung auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG seine Kompetenzen, welche ihm das Grundgesetz und das BVerfGG mit der auf individuellen Rechtsschutz beschränkten Verfassungsbeschwerde einräumt. Zu Lasten von Parlament und Regierung maßt sich der 2. Senat des BVerfG Kontrollbefugnisse an, welche eigentlich u.a. nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nur den nach §§ 76 ff. BVerfGG berechtigten Stellen zustehen. Den Mißbrauch des Instruments der Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der Euro-Rettung durch über 37.000 „Jedermänner“ hat sich das Gericht selbst zuzuschreiben.[50] Letztlich ist der Streit „müßig“, da auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerden ohnehin im Wesentlichen aussichtslos sind.
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