321
Beweisbeschlüsse sind zwar grundsätzlich nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar, weil ihre Fehlerhaftigkeit im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht werden kann.[91] Etwas anderes gilt dann, wenn sich bereits aus der Art und Weise der Beweiserhebung eine nicht mehr korrigierbare Verletzung von Grundrechten ergibt.[92]
322
Bloße Streitwertfestsetzungen[93] oder Kostenentscheidungen[94] können als Beschwerdegegenstand in Betracht kommen, soweit das Rechtsschutzbedürfnis vorhanden ist.
cc) Ausnahme: Unzumutbarkeit
323
Eigentlich mit der Verfassungsbeschwerde nicht anfechtbare unselbstständige Zwischenentscheidungen können jedoch im Fall der Unzumutbarkeit u.U. selbstständig angefochten werden.
324
Beispiel
BVerfG NJW 2001, 3695 – Pflichtverteidigerbestellung: „Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Auswahlentscheidung des Vorsitzenden nach § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO ist nach überwiegender Meinung trotz des isoliert zulässigen Beschwerderechtszugs mit der Revision angreifbar… Es handelt sich damit um eine Zwischenentscheidung, deren unmittelbare Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich ausgeschlossen ist(...) Auf der Grundlage dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Kammerentscheidungen entsprechende Verfassungsbeschwerden als unzulässig angesehen(...) Die Pflicht zur Rechtswegerschöpfung besteht aber nur im Rahmen des Zumutbaren. . . Entstünden dem Beschwerdeführer – wie hier – schwere und unabwendbare Nachteile, falls er zunächst auf den Rechtsweg zu den Fachgerichten verwiesen würde, hindert das Subsidiaritätsprinzip nicht eine Entscheidung über die vorab eingelegte Verfassungsbeschwerde (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).“
c) Vorbereitendes Handeln
325
Bloß vorbereitendes Handeln, das einer späteren Entscheidung dient, kann nicht zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden. Als Beispiele seien genannt: Ankündigungen von Entscheidungen[95] oder eines künftigen behördlichen Verhaltens,[96] Anregungen einer Behörde zum Tätigwerden,[97] Mitteilungen und Äußerungen von Behörden zur Sach- und Rechtslage[98] oder die Nichtaussetzung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft.[99]
d) Mehrere Entscheidungen in derselben Sache
326
Soweit der Beschwerdeführer sowohl durch einen Verwaltungsakt als auch durch die Entscheidungen im anschließenden gerichtlichen Verfahren in einem Recht im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG verletzt worden ist, sind grundsätzlich alle Entscheidungen einschließlich des Verwaltungsakts Gegenstand der Verfassungsbeschwerde und entsprechend aufzuheben, wenn sie sämtlich mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen sind.[100] Es gilt letztlich der Grundsatz der „Einheit der Verfassungsbeschwerde“. Nennenswerte Probleme tauchen in der Praxis in der Regel nicht auf. Der Beschwerdeführer sollte im Zweifel alle – nur insoweit besteht die Beschwerdebefugnis – belastenden (!) Entscheidungen anführen. Es ist schließlich – dies verkennt Stelkens[101] – besser, wenn eine Verfassungsbeschwerde (partiell) ausnahmsweise als unzulässig angesehen wird, als wenn durch das Versäumnis des Angreifens einer Entscheidung ein Obsiegen im Verfassungsbeschwerdeverfahren verhindert wird. Soweit jedenfalls die Entscheidungen aufgeführt und konkret bezeichnet sind, wird damit dem Bezeichnungserfordernis des § 92 BVerfG Rechnung getragen.[102]
6› III› 5. Unterlassen
327
Auch ein Unterlassen kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, vgl. §§ 92, 95 Abs. 1 BVerfGG. Bei legislativem Unterlassen ist zu unterscheiden: Echtes Unterlassen des Gesetzgebers liegt vor, wenn trotz verfassungsrechtlicher Pflicht entgegen einem ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes keine Norm erlassen wurde.[103] Der Gesetzgeber muss völlig untätig geblieben sein.[104] Dies wurde verneint bei Verfassungsbeschwerden gegen das Waffengesetz.[105]
328
Von einem unechten Unterlassen ist auszugehen, wenn der Gesetzgeber seiner Normerlasspflicht nicht in zureichender Weise nachgekommen ist.[106] Bei einem Unterlassen einer Rechtssetzung seitens der Verwaltung in Form von Rechtsverordnungen und Satzungen ist am Maßstab des § 90 Abs. 2 BVerfGG zu beachten, dass eine Feststellungslage nach § 43 VwGO in Betracht kommt.[107] Bei Untätigkeit von Behörden muss i.d.R. fachgerichtlicher Rechtsschutz wie z.B. eine Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO erhoben werden.[108]
329
Bei Untätigkeit von Gerichten kommen je nach Sachverhalt die unterschiedlichsten Rechtsbehelfe in Betracht. Verletzt sein kann Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, wenn ein Gericht nicht gem. Art. 267 S. 3 AEUV dem EuGH vorlegt; auch kann verletzt sein Art. 103 Abs. 1 GG, wenn kein Gehör gewährt wird. Im eigentlichen Hauptfall überlanger Gerichtsverfahren gibt es unter dem Druck des EGMR[109] eine umfangreiche Judikatur des BVerfG.[110] Es konnte zudem die Menschenrechtsbeschwerde mit einem Entschädigungsantrag nach Art. 41 EMRK verbunden werden; der EGMR hat in Fällen überlanger Verfahrensdauer die Verfassungsbeschwerde nicht als effektiven Rechtsbehelf angesehen.[111] Nunmehr gelten aber – dazu unter Rn. 1091– die §§ 198 ff. GVG bzw. §§ 97a ff. BVerfGG; eine Verfassungsbeschwerde kommt daher nur in Betracht, wenn die vom Gesetz eröffneten Möglichkeiten erfolglos genutzt worden sind.
[1]
Bei Art. 19 Abs. 4 GG fällt unstreitig die Rechtsprechung i.e.S. nicht unter den Begriff der öffentlichen Gewalt, da dieses Grundrecht Rechtsschutz durch, aber nicht gegen den Richter gewährleistet ( BVerfGE 11, 263, 265; 22, 106, 110; 31, 87, 93 f.).
[2]
BVerfGE 4, 27, 30.
[3]
Vgl. nur BVerfG Beschl. v. 27.9.1998 – 2 BvR 735/88.
[4]
BVerfGE 128, 226, 245.
[5]
BVerfGE 78, 320, 328.
[6]
BVerfG Beschl. v. 9.7.2007 – 2 BvR 23/07; handelt ein Privater im behördlichen Auftrag mit dem Ziel der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben, so wird das dem Staat zugerechnet, vgl. EGMR StV 2004, 1, 2.
[7]
Vgl. auch BVerfGE 22, 293, 295, 297; 58, 1, 27. BVerfG AgrarR 1987, 111 (MilchmengengarantieVO).
[8]
Vgl. Rn. 51 ff., 79 ff.
[9]
BVerfG NJW 2012, 3145.
[10]
BVerfG 89, 155, 177.
[11]
BVerfG NJW 2012, 3145; BVerfGE 123, 267, 353 ff.
[12]
Vgl. oben Rn. 89 ff.
[13]
Nicht überzeugend z.B. Lenz/Hansel BVerfGG, § 90 Rn. 199 ff. oder Zuck/Lenz NJW 1997, 1193.
[14]
BVerfG NJW 2012, 3145.
[15]
Dies verkennen Lenz/Hansel BVerfGG, § 90 Rn. 207.
[16]
Gleiches gilt, wenn eine EU-Verordnung (Art. 288 S. 2 AEUV) in Teilen richtlinienartigen Charakter hat.
[17]
Vgl. oben unter Rn. 80 ff.
[18]
Vgl. oben unter Rn. 83.
[19]
BVerfGE 125, 260, 306; BVerfG Beschl. v. 24.1.2012 – 1 BvR 1299/05. Auch der EGMR – z.B. Urt. v. 30.6.2005 – 45036/98 – Bosphorus Hava/Irland – bejaht bei einem mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraum eine volle Kontrolle.
[20]
BVerfGE 129, 78, 90; 125, 260, 306 f.; 121, 1, 15.
[21]
BVerfGE 129, 78, 90 f.
[22]
BVerfG Beschl. v. 24.1.2012 – 1 BvR 1299/05.
[23]
Vgl. unten Rn. 370 ff.
[24]
BVerfGE 119, 292, 295; BVerfG Beschl. v. 5.10.2011 – 2 BvR 1555/11.
[25]
Vgl. auch BVerfG Beschl. v. 4.9.2008 – 2 BvR 2162/07; BVerfG Beschl. v. 20.2.2008 – 1 BvR 2722/06.
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