b) Sonstiges Verfassungsrecht
353
Auf dem Umweg über Grundrechte kann auch sonstiges Verfassungsrecht als verletzt gerügt werden, da der Verfassungsbeschwerde über den vorrangigen individuellen Grundrechtsschutz auch eine objektive (Normen-)Kontrollfunktion der Wahrung der Verfassung zukommt.[51]
354
Dies gilt vor allem für Art. 2 Abs. 1 GG. Schließlich kann jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung (i.S.v. Art. 2 Abs. 1 GG), weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen wie die Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG, das Gesetzgebungsverfahren nach den Art. 76 ff. GG oder allgemeine Verfassungsgrundsätze wie das Rechtsstaatsprinzip verstoße; deshalb werde zumindest sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.[52] In ein Grundrecht darf schließlich nur durch oder auf Grund eines solchen Gesetzes eingegriffen werden, das mit der gesamten verfassungsmäßigen Ordnung (also mit jedem Grundgesetzartikel) übereinstimmt, das also auch „an sich“ und „im übrigen“ – abgesehen vom eventuell speziell betroffenen Grundrecht – gültig ist.
355
Eine entsprechende Rüge objektiven Verfassungsrechts kann aber nicht nur über Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch bei Einschlägigkeit anderer Grundrechte geltend gemacht werden, wie z.B. Art. 4, 12, oder 14 GG.[53]
356
Beispiel
Bremer Landeskirche:[54] Die Kirche wandte sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des StGH Bremen zu einer Regelung, nach der ein Pfarrer für die Dauer der Ausübung eines Abgeordnetenmandats als beurlaubt gilt. Das BVerfG hat die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung der Kirche aus Art. 4 Abs. 1 GG bejaht und anschließend im Rahmen der Begründetheitsprüfung ausgeführt: „Nachdem die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist das BVerfG bei der materiell-rechtlichen Prüfung nicht mehr darauf beschränkt zu untersuchen, ob eine der gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegt. Es kann die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des angegriffenen Urteils vielmehr unter jedem in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt prüfen. “ Anschließend hat das BVerfG objektives Verfassungsrecht wie Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV geprüft.
6› IV› 2. Betroffenheit des Beschwerdeführers
2. Betroffenheit des Beschwerdeführers
357
Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden setzt im Rahmen der Beschwerdebefugnis weiter die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt zu sein.[55]
358
Im Hauptfall der Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen ergeben sich in der Regel keine Probleme, da hier die entsprechenden Voraussetzungen meist selbstverständlich vorliegen, wenn die Parteien oder Beteiligten des fachgerichtlichen Verfahrens die Verfassungsbeschwerde erheben. Erforderlich ist aber im Regelfall eine Beschwer durch den Tenor einer Entscheidung und nicht nur deren Begründung.[56] Einer strengen Prüfung bedarf hingegen die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze.[57]
359
Bei Verfassungsbeschwerden ist der Beschwerdegegenstand beschränkt durch das Kriterium der Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers. Bereits der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG macht deutlich, dass er nur die Verletzung „seiner“ Grundrechte oder der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte geltend machen kann. Eine Popularklage ist damit explizit ausgeschlossen. Es ist nur derjenige beschwerdebefugt, der selbst in einem Grundrecht betroffen ist.[58] Er muss – z.B. durch ein Urteil – tatsächlich unmittelbar rechtlich und nicht nur mittelbar-reflexiv durch den Akt öffentlicher Gewalt betroffen sein.[59] Eine eigene rügefähige Beschwer setzt mehr als bloße Reflexwirkungen des angegriffenen Hoheitsaktes voraus.[60]
360
Selbst betroffen ist in jedem Fall der Adressat der angegriffenen Maßnahme.[61] Das Erfordernis der Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers ist ohne weiteres erfüllt, wenn sich – wie in der Regel – der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Hoheitsakt wie eine gerichtliche Entscheidung an ihn selbst richtet.[62]
361
Richtet sich der Hoheitsakt an Dritte, so muss zwischen der Grundrechtsposition des Beschwerdeführers und der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Maßnahme ein hinreichend enger Zusammenhang bestehen. Dabei muss eine rechtliche Betroffenheit vorliegen; eine nur faktische Beeinträchtigung im Sinne einer Reflexwirkung reicht nicht.[63]
362
An einem Prozess nicht Beteiligten steht i.d.R. mangels Beschwer die Verfassungsbeschwerde nicht offen.[64] Wenn der Beschwerdeführer nicht Adressat eines Gesetzes oder eines Gerichtsverfahrens ist, kann nur ausnahmsweise eine Selbstbetroffenheit vorliegen.
363
Voraussetzung ist, dass sich die nachteiligen Wirkungen auch für ihn als Eingriff und nicht nur als bloße Reflexwirkungen darstellen, welche ihn nur „faktisch“ oder „mittelbar“ berühren[65], wie das z.B. mangels Bindungswirkung bei einer Feststellung im Urteil eines Strafverfahrens ist.[66]
364
Der Hoheitsakt muss nicht am Verfahren Beteiligte unmittelbar rechtlich in einem grundrechtlich geschützten Bereich berühren. Derart betroffene Dritte können eine Beschwer i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG geltend machen.[67] Zugleich muss dargetan werden, dass eine Beseitigung der in Rede stehenden Grundrechtsverletzung erreicht werden kann[68] oder zumindest die Chance einer Besserstellung besteht.[69] Die Grenzen sind angesichts der Unbestimmtheit der Kriterien fließend und können nur fallorientiert ermittelt werden.
365
Beispiel
BVerfGE 99, 145 – Kindesentführung:Ein Eingriff in eigene Rechte liegt z.B. vor im Fall eines Streits zwischen Elternteilen um Kinder ohne deren Beteiligung an dem Gerichtsverfahren; es können hier die Kinder[70], ein Elternteil[71] oder ein Ergänzungspfleger[72] gegen die letztinstanzliche Entscheidung Verfassungsbeschwerde einlegen; das Recht der Eltern resultiert aus Art. 6 Abs. 1 GG.[73]
BVerfGE 52, 41, 51:Die Zurückweisung eines Rechtsanwalts als Prozessbevollmächtigten auf Grund eines gemeindlichen Vertretungsverbots durch ein Gericht betrifft den Anwalt selbst, obwohl die gerichtliche Entscheidung gegen seinen Mandanten gerichtet ist.[74]
BVerfG NJW 2006, 1504:Ein Rechtsanwalt, der für seinen Mandanten einen Antrag auf Beratungshilfe stellt, wird durch die Zurückweisung dieses Antrags nur mittelbar (reflexartig) in seiner Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) berührt. Eine vom Rechtsanwalt gegen die Zurückweisung des Antrags im eigenen Namen erhobene Verfassungsbeschwerde ist deshalb wegen fehlender Beschwer unzulässig.
BVerfG WM 2005, 408:Keine Selbstbetroffenheit des Geschäftsführers einer GmbH, welche sich selbst auf Art. 13 Abs. 1 GG berufen kann, soweit deren Geschäftsräume durchsucht werden.
BVerfG NJW 2002, 2091:Mangels Selbstbetroffenheit unzulässige Verfassungsbeschwerden von Vereinsbetreuern gegen gerichtliche Entscheidungen über die Höhe der anerkannten Betreuungsvereine für die Tätigkeit ihrer Mitarbeiter als gerichtlich bestellten Vereinsbetreuer zustehenden Vergütung. Die Höhe des Vergütungsanspruchs eines Betreuungsvereins für die Tätigkeit seines Vereinsbetreuers berührt nicht dessen Entlohnungsanspruch gegen den Betreuungsverein als Arbeitgeber. Zulässig waren nur die Verfassungsbeschwerden der Betreuungsvereine.
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