366
Die mögliche Betroffenheit des Beschwerdeführers bestimmt – zumindest im Prinzip[75] – auch den Umfang der Prüfung, der sich im Übrigen auch nach der Begründung des Beschwerdeführers richtet. Sie muss – das ist auch bedeutsam für ein mögliches Folgeverfahren vor dem EGMR[76] – die entsprechende Rüge zumindest der Sache nach – die Benennung der maßgeblichen Grundrechte kann unzutreffend sein – enthalten.
367
Ein Gerichtsurteil wird im Wege der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nur soweit aufgehoben und ein Gesetz nur insoweit für nichtig erklärt, als die Grundrechte der Beschwerdeführer verletzt werden und die Maßnahme auf der Verfassungsverletzung beruht oder beruhen kann. Die z.B. von einem Beschwerdeführer vorrangig angegriffene Zweitstudienregelung war nur insoweit abschließend zu prüfen, wie sie für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens sachlich und zeitlich erheblich war.[77] Soweit dies allerdings der Fall ist, wird in der Regel von Amts wegen das gesamte Verfassungsrecht – also etwa auch die Art. 70 ff. GG – als Maßstab genommen.
368
Im Falle der Nichtberücksichtigung in begünstigenden – z.B. subventionsrechtlichen – Regelungen reicht für die Selbstbetroffenheit nicht das Ziel einer isolierten Beseitigung der Begünstigung Dritter. Vielmehr muss es das Ziel sein, eine Verbesserung der eigenen Rechtsstellung zu erreichen durch Einbeziehung in den Kreis der Begünstigten bei Nichtigerklärung der gesetzlichen Regelung bzw. einer entsprechenden Feststellung.[78] Angesichts des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers kommt eine Einbeziehung in den Kreis der Begünstigten durch die Entscheidung des BVerfG nur ausnahmsweise in Betracht;[79] das BVerfG beschränkt sich im Regelfall auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Norm.[80] Es reicht daher für die Selbstbetroffenheit die Feststellung eines Verfassungsverstoßes durch das BVerfG, der nur[81] oder wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit[82] durch eine den Beschwerdeführer begünstigende Neuregelung zu beseitigen ist.
dd) Prozessstandschaft[83]
369
Wegen des Erfordernisses der Selbstbetroffenheit mit der Notwendigkeit einer Geltendmachung eigener Grundrechte scheidet eine Prozessstandschaft – also die Geltendmachung fremder Rechte im eigenen Namen – im Verfassungsbeschwerdeverfahren in der Regel aus.[84] Daher fehlt auch Verbänden oder Vereinen die Beschwerdebefugnis, wenn sie nicht eigene, sondern Rechte ihrer Mitglieder geltend machen.[85]
370
Die Beschwerdebefugnis fehlt vor allem bei gewillkürter Prozessstandschaft.[86] Sie ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren unzulässig[87] unabhängig davon, ob sie im fachgerichtlichen Verfahren für zulässig gehalten wurde.[88]
371
Urheber müssen daher z.B. grundsätzlich selbst Verfassungsbeschwerde einlegen. Ihre Grundrechte können nicht wahrgenommen werden durch Verwertungsgesellschaften als Beschwerdeführer.[89] Eine Verwertungsgemeinschaft von Urhebern, die vor den Fachgerichten auch eine Verwertungsgemeinschaft anderer Urheber vertreten hat, kann daher im Verfassungsbeschwerdeverfahren für diese nicht auftreten,[90] sondern nur für ihre eigenen Urheber und dies auch nur deshalb, weil der Gesetzgeber die Vergütungsansprüche verwertungsgesellschaftspflichtig gemacht hat.[91] Bei fehlender Verwertungsgesellschaftspflicht scheidet auch eine derartige Prozessstandschaft aus.[92]
372
Es muss stets sorgfältig geprüft werden, ob eigene oder fremde Rechte geltend gemacht werden.
Beispiel
BVerfGE 129, 78, 92:Eine unzulässige Prozessstandschaft liegt z.B. nicht vor, wenn ein Möbelhersteller mit dem Urheber der Möbelmodelle Exklusivverträge über die Herstellung und Vermarktung geschlossen hat, weil er dadurch in dessen durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutzrechte des geistigen Eigentums eingerückt ist. Die Beauftragung mit dem Aufspüren und der Verfolgung von Urheberrechtsverstößen ist demgegenüber nicht ausreichend und eine in gewillkürter Prozessstandschaft erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig.
373
Zudem kann die Partei des Ausgangsverfahrens eine Beschwer, die in der Verletzung von Prozessgrundrechten wie Art. 103 Abs. 1 GG besteht, mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen, auch wenn sie das fachgerichtliche Verfahren nur als Prozessstandschafter geführt hat.[93]
374
Bei gesetzlicher Prozessstandschaft macht das BVerfG Ausnahmen. Dies gilt vor allem in den Fällen, in denen wegen des Vorhandenseins einer Prozessstandschaft im fachgerichtlichen Verfahren und in der Folge des Auseinanderfallens von Prozessführungsbefugnis und Rechtsinhaberschaft bei einer ausnahmslosen Beibehaltung des Grundsatzes niemand Verfassungsbeschwerde gegen ein grundrechtsverletztendes Urteil erheben könnte; dann muss die Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise zulässig sein.[94]
375
Zulässig ist eine Verfassungsbeschwerde – ungeachtet eigentlich fehlender Selbstbetroffenheit – durch die Parteien kraft Amtes wie bei Testamentsvollstreckern,[95] Nachlass-[96] oder Insolvenz[97]– bzw. Konkurs-[98] und Gesamtvollstreckungsverwaltern.[99] Das BVerfG spricht in den Vermögensverwalterfällen zwar nicht ausdrücklich von Prozessstandschaft; in der Sache handelt es sich aber um eine prozessstandschaftliche Beschwerdeführung.
b) Unmittelbarkeit der Rechtsverletzung
376
Die Beschwerdebefugnis setzt weiter voraus, dass der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Normen nicht nur selbst und gegenwärtig sondern auch unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist.[100] Unmittelbarkeit ist gegeben, wenn sich die Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers direkt aus dem angegriffenen Hoheitsakt und nicht erst aus einem weiteren Vollzugsakt ergibt. Bei Urteilen und Beschlüssen bestehen insoweit keine Probleme. Problematisch ist dieses Kriterium allein bei Gesetzen, bei denen im Regelfall kein Rechtsweg zur Verfügung steht. Um hier dem Gebot der Subsidiarität über den Wortlaut des § 90 Abs. 2 BVerfGG Rechnung zu tragen, hat das BVerfG das Unmittelbarkeitserfordernis statuiert, dessen Bedeutung unten im Rahmen des Gebots der Rechtswegerschöpfung erörtert wird.[101]
c) Gegenwärtige Betroffenheit
377
Der Beschwerdeführer muss schließlich gegenwärtig betroffen sein. Es geht hier um das zeitliche Element der Betroffenheit. Es kann problematisch sein bei einer erst künftigen Beschwer oder auch bei einer Erledigung durch Wegfall der Beschwer. Dieser Aspekt der Beschwerdebefugnis überschneidet sich mit dem – noch unten zu erörternden[102] – allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis, bei dem u.a. die Fallgruppe der Erledigung behandelt wird. Wirkliche Probleme stellen sich in der Praxis eigentlich auch hier nur bei Gesetzesverfassungsbeschwerden, nicht aber im Regelfall einer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen.
aa) Allgemeine Voraussetzung: Aktuelle Beschwer
378
Erforderlich ist, dass der Beschwerdeführer von dem angegriffenen Hoheitsakt (wie z.B. einem Gesetz) aktuell betroffen ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Akt entweder noch nicht oder nicht mehr gegen ihn wirkt. Nicht genügt es, dass er irgendwann einmal in der Zukunft („virtuell“) berührt sein könnte.[103] Da ein virtuelles Betroffenwerden bei Normen fast stets zu bejahen sein wird, würde sich andernfalls die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis doch zu einer Popularklage ausweiten.[104]
379
Im Regelfall ist eine gegenwärtige Beschwer bei Vorliegen eines Urteils gegeben, weil es den Beschwerdeführer aktuell betrifft. Maßgeblich ist die Beschwer durch den Tenor. Nachteilige Auswirkungen in den Gründen der Entscheidung begründen keine ausreichende Beschwer.[105] Eine Ausnahme von der allein aus dem Tenor der angegriffenen Gerichtsentscheidung abzuleitenden Beschwer wird aber dann angenommen, wenn die Urteilsgründe den Beschwerdeführer so belasten, dass darin losgelöst von dem für ihn günstigen Urteilstenor eine erhebliche und unzumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs zu sehen ist.[106]
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