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Zum „Kabelgroschen“ erging 1994 das 8. Rundfunkurteil.[204] Es betrifft damit abermals die bis zum 1.1.2013 bestehende Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das Gericht beanstandete das zu beurteilende Verfahren der Gebührenfestsetzung vor dem Hintergrund der Staatsfreiheit und gab für die Gebührenfestsetzung eine verfahrensrechtliche Lösung auf drei Stufen vor,[205] welche 1996 Eingang in den 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrag fand. Danach müssen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen an ihren Aufgaben orientierten Finanzbedarf anmelden, dessen Erforderlichkeit von der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) fachlich überprüft wird, bevor die Landesparlamente sodann unter Berücksichtigung des Vorschlags der KEF die Gebührenhöhe festlegen. Dieses Verfahren zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs des öffentlichen Rundfunks ist auch im Rahmen der neuen Beitragsfinanzierung beibehalten worden.[206]
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In seiner Entscheidung v. 11.9.2007, die als 9. Rundfunkurteil[207] hier einzureihen ist, befasste sich das BVerfG erneut mit der Rundfunkfinanzierung.[208] Der Sache nach ging es um die Kürzung des seitens der KEF ermittelten Gebührenaufkommens in den für die Jahre 2005–2008 durch den Gesetzgeber des 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrages. Das Gericht erklärte die konkret vorgenommene Kürzung mangels hinreichender Begründung durch den Gesetzgeber für verfassungswidrig. Als zulässige Gründe, die den Ländern eine Abweichung von dem Gebührenvorschlag der KEF ermöglichen, kommen regelmäßig nur die Sicherung des Informationszugangs und die Angemessenheit der Belastung für die Gebührenzahler in Betracht. Aufgrund des Letztentscheidungsrechts der Länder ist eine verfassungsrechtlich gerechtfertigte Kürzung aber im Grundsatz zulässig, sofern die Festsetzung des jeweiligen Betrages frei von medienpolitischen Zwecksetzungen erfolgt. Zugleich stärkte das Gericht die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowohl gegenüber dem Gesetzgeber als auch im dualen Rundfunksystem. Private Rundfunkveranstalter verlieren aufgrund der mit der Werbefinanzierung verbundenen vielfaltsverengenden Faktoren nicht ihre Funktion als Gegengewicht im dualen System. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wurde die Teilhabe an neuen Entwicklungen eröffnet und das Internet als weiterer Verbreitungsweg zur Erfüllung ihres Funktionsauftrages aufgezeigt.[209]
Die 10. Rundfunkentscheidung[210] wurde auf einen Normenkontrollantrag der SPD-Bundestagsfraktion hin erlassen, der sich gegen die Novellierung des hessischen Privatrundfunkgesetzes (HPRG) über die Beteiligung politischer Parteien an privaten Rundfunksendern richtete. Politischen Parteien darf gem. § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG keine Zulassung zum Rundfunk erteilt werden. Die Entscheidung überprüft die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit dieses absoluten Verbots. Der zweite Senat macht sich in diesem Zusammenhang die stRspr. des ersten Senats zu eigen, wonach die Rundfunkfreiheit der gesetzlichen Ausgestaltung bedarf. Zudem bestätigt das Gericht, dass Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG die Staatsferne des Rundfunks fordert. Dieser Grundsatz ist auch im Verhältnis zu den Parteien zu berücksichtigen, da diese zwar nicht dem Staat zuzuordnen seien, aber eine gewisse Staatsnähe aufwiesen. Auf der anderen Seite stehe den Parteien die subjektive Rundfunkfreiheit zur Verfügung, die durch den Mitwirkungsauftrag des Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verstärkt werde. Da es sich um ein Ausgestaltungsgesetz handele, habe der Gesetzgeber zwar einen weiten Gestaltungsspielraum bei dem Ausgleich der Staatsferne mit den Rechten der Parteien. Bei der Prüfung dieses Ausgestaltungsgesetzes ist indes nicht nur danach zu fragen, ob die Regelung geeignet ist, das Ziel der Rundfunkfreiheit zu fördern, sondern auch, ob die Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter in angemessener Weise, also verhältnismäßig im engeren Sinne, vorgenommen wurde. Damit nimmt das Ausgestaltungsgesetz eine Verhältnismäßigkeitskontrolle vor, die derjenigen bei Eingriffsgesetzen weitgehend entspricht. Werden die Parteien gänzlich von der Beteiligung an privaten Rundfunkveranstaltern ausgeschlossen, liegt keine sachgerechte Abwägung der Interessen vor. Dem Gesetzgeber steht es nach der Entscheidung dagegen frei, den Parteien die Beteiligung zu verwehren, soweit damit ein bestimmender Einfluss auf die Programmgestaltung einhergeht.
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Das BVerfG hat über die Jahre neben diesen zentralen Aussagen weiterewichtige rundfunkrechtliche Entscheidungengefällt. Die „schlechthin konstituierende Bedeutung“ der Rundfunkfreiheit für die freie demokratische Grundordnung wurde in der Lebach-Entscheidung von 1973[211] hervorgehoben. Die Entscheidung zur EG-Fernsehrichtlinie von 1995[212] betrifft die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft, Bund und Ländern. Um Fragen der Zusammensetzung der Rundfunkräte und die Rolle des Staates bei deren Besetzung ging es ebenfalls 1995.[213] 1998 wurde zum Kurzberichterstattungsrecht[214] bei Sportveranstaltungen entschieden. Im selben Jahr ging es in Extra-Radio 1998[215] um die Grundrechtsträgerschaft bei der Rundfunk- und Rundfunkunternehmerfreiheit insgesamt. Ebenfalls 1998 war die wirtschaftliche Reichweite der Rundfunkfreiheit (Merchandising) Gegenstand der Entscheidung Guldenberg.[216] Die Radio Bremen–Entscheidung befasste sich 1999[217] mit dem Recht des Gesetzgebers, in die Organisationsstruktur der Rundfunkanstalten unter Wahrung der Programmfreiheit einzugreifen und in der Cicero-Entscheidung stärkte das Gericht 2007 die Pressefreiheit gegenüber staatlichen Durchsuchungsrechten.[218] In der Esra-Entscheidung aus dem Jahr 2007 ging es um das Verhältnis der Kunstfreiheit zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Hinblick auf die Intimsphäre.[219] Ferner ist im März 2014 die Entscheidung des BVerfG zur personellen Besetzung der Aufsichtsgremien des ZDF ergangen.[220] Darin sind die maßgeblichen Regelungen zur Zusammensetzung von Fernseh- und Verwaltungsrat mangels hinreichender Gewährleistung der Staatsferne für verfassungswidrig erklärt worden. Der in Umsetzung dieses Urteils am 1.1.2016 in Kraft getretene ZDF-Staatsvertrag[221] regelt eine Verkleinerung des ZDF-Fernsehrates von 77 auf 60 Sitze.[222] Dort gehen 20 statt der bisherigen 34 Sitze an Parteivertreter. Die Landesregierungen der beteiligten Länder entsenden hierfür je einen Vertreter, § 21 S. 1 lit. a ZDF-StV; darüber hinaus werden je zwei Vertreter von Bund und Kommunen gestellt, § 21 Abs. 1 S. 1 lit. b, c ZDF-StV. Zudem werden 24 Vertreter von Verbänden und Organisationen gesandt, § 21 Abs. 1 S. 1 lit. d–p ZDF-StV), 16 Sitze werden von Vertretern aus den Ländern zugeordneten gesellschaftlichen Bereichen entsendet, § 21 Abs. 1 S. 1 lit. q ZDF-StV.[223] Für den ZDF-Verwaltungsrat gilt: Nach § 24 Abs. 1 ZDF-StV besteht der Verwaltungsrat aus zwölf Mitgliedern, nämlich vier Vertretern der Länder, die von den Ministerpräsidenten gemeinsam berufen und acht weiteren Mitgliedern, die vom Fernsehrat mit einer Mehrheit von drei Fünfteln seiner gesetzlichen Mitglieder gewählt werden. Nicht wählbar sind die Mitglieder des Fernsehrates nach § 21 Abs. 1 S. 1 lit. a) bis c) ZDF-StV. Umgesetzt wird dies ab Beginn der nächsten Amtsperiode im Sommer 2017.[224]
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Ebenfalls vor einer Novellierung steht der MDR-Staatsvertrag.[225] Anhängig sind zudem Verfassungsbeschwerden gegen den Rundfunkbeitrag.[226] Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht im Januar 2017 entschieden bzw. klargestellt, dass der Rundfunkbeitrag pro Wohnung, insbesondere also auch für Zweitwohnungen, erhoben wird, so dass ein Nutzer mit mehreren Wohnungen den Beitrag mehrfach zu entrichten hat.[227]
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Für das BVerfG steht eine Entscheidung zum sog. Recht auf Vergessen werden an, das der EuGH in seiner Entscheidung Google Spain aus dem Jahr 2014 entwickelt hat[228] und das in Art. 17 DSGVO aufgegriffen und ausgedehnt wurde. In dem in Karlsruhe anhängigen Verfahren macht ein verurteilter Mörder den Anspruch darauf geltend, seinen Namen in digitalen Pressearchiven zu anonymisieren. Über seinen im Jahr 1981 begangenen Doppelmord hatte unter anderem der Spiegel berichtet und die damaligen Artikel sind im Online-Archiv abrufbar. Der BGH hat im Jahr 2012,[229] also vor der Entscheidung des EuGH, entschieden, es bestehe ein „anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit“ daran, zeitgeschichtliche Ereignisse wie dieses unverändert recherchieren zu können. Hiergegen wendet sich der Betroffene nunmehr mit einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.[230] Im Kern geht es um die Frage, ob es nach Ablauf einer angemessenen Zeit einen „Änderungsanspruch“ gegenüber Presseunternehmen geben kann.[231] Würde das BVerfG dem nachkommen, so stünde nicht nur die Vollständigkeit der digitalen Pressearchive als digitales historisches Archiv in Frage. Es müsste auch die Frage beantwortet werden, ob das Recht auf Vergessen werden sich auch auf körperlich abgelegte Inhalte von Pressearchiven erstreckt. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nur, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Auffindbarkeit in Suchmaschinen unterbunden werden muss. Art. 17 DSGVO hat diesen Anspruch auf Kopien und Replikanten von Online-Inhalten erstreckt.
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