1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 «Das Wetter hat umgeschlagen», sagte Joël und hoffte, die beiden würden sich auf einen sesselliftüblichen Small-Talk einlassen und sich dabei als ganz normale Touristen entpuppen. Doch keiner von beiden antwortete.
Der Wind pfiff. Der Sessel schaukelte. Schneeflocken klatschten gegen die Sturmhaube.
Der Typ rechts neben ihm zog den rechten Handschuh aus, ballte die Hand zur Faust.
Der Schlag traf Joël mitten auf die Nase. Es knackste. Joël schrie auf, spürte Blut auf den Lippen, sah alles nur noch verschwommen. Das Bild wurde in Tausende einzelne Punkt aufgeteilt, die in rascher Folge aufleuchteten und erloschen, es verfinsterte sich vom Rand her, schliesslich wurde es ganz schwarz.
Joël spürte, wie die beiden Kerle an ihm herumfummelten. Er hörte, wie die Sturmhaube geöffnet wurde. Seine Beine mit den Skischuhen und den Skis wurden vom Sicherheitsbügel des Sessellifts gezerrt. Er wehrte sich, schlug mit den Armen um sich.
Den nächsten, heftigen Schlag spürte er zwar noch.
Dann aber nichts mehr.
REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Als Myrta ihr Handy checkte, sah sie, dass es bereits 18.04 Uhr war. «Himmel, schon so spät», sagte sie leise.
Sie sah auch, dass sie fünf Anrufe in Abwesenheit erhalten hatte. Drei waren von Bernd. «Die Alte am Kochen und die Kids am Fernseh gucken», murmelte Myrta.
Der vierte Anruf stammte von ihrer Mutter. «Ja, Mama, ich lebe noch, und ich bin um 20 Uhr zu Hause.»
Der fünfte war von Joël. «Was will der denn?», sagte Myrta laut. So laut, dass es Martin hörte, der gerade in die Küche gegangen war, um eine zweite Flasche Champagner zu holen. Myrta war zwar schon etwas beschwipst, aber das war ihr im Augenblick egal.
«Was hast du gesagt?», fragte Martin, als er zurückkam.
«nichts. Doch. Joël hat mich angerufen.»
«Joël?»
«Lange Geschichte. Ein Ex-Freund. Nein, ein Freund, aber auch ein Ex. Oder so. Ich ruf ihn schnell zurück, sorry.»
Myrta wählte Joëls Nummer.
Als sie hörte, dass er den Anruf entgegennahm, sprudelte sie gleich los: «Hey Joël, was soll das? Du hast mir noch nie frohe Weihnachten gewünscht oder mir zum Geburtstag gratuliert. Wirst du sentimental? Hast du zu viel getrunken? Bist du etwa einsam? Oder bist du wie ich von einem Pferd gefallen und liegst jetzt im Delirium? Also, was willst …» Da merkte Myrta, dass die Verbindung abgebrochen war. «Joël?»
LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Der Sessellift hatte den Betrieb eingestellt. Wenn es so etwas wie eine letzte Kontrollfahrt gegeben hatte, dann war er nicht entdeckt worden. Schliesslich trug er wegen seines Paparazzo-Jobs einen weissen Skianzug. Blieb nur die Hoffnung auf den Pistendienst. Lag er überhaupt auf einer Piste? Oder an deren Rand? Er wusste es nicht. Er sah nur Schnee, Neuschnee. Zudem war es mittlerweile schon dunkel. Vermutlich waren auch die Leute vom Pistendienst längst nach Hause gegangen.
Joël probierte erneut, den Rettungsdienst zu alarmieren. Doch sein iPhone litt unter der Kälte und der Feuchtigkeit. Hin und wieder leuchtete das Display zwar auf, auch Empfang war vorhanden, aber kaum hatte Joël die Notrufnummer 112 gewählt, machte das Handy schlapp. Auch der Versuch, mit Myrta zu telefonieren, war gescheitert. Er hatte ihre ersten Worte zwar noch verstanden, doch dann war Schluss.
«Wenn ich einen Fön hätte, könnte ich das Scheissding trocknen und wärmen», sagte er vor sich hin und lächelte. Das hatte schon einmal geklappt, als er es im Sommer bei einem Gewitter mal draussen hatte liegenlassen. Er öffnete seinen Skianzug und klemmte das iPhone wie einen Fiebermesser unter den Arm. Dies machte er manchmal auch mit den Batterien seines Blitzgeräts, wenn vor Kälte gar nichts mehr ging.
Und jetzt war es kalt. Saukalt. Er lag schon länger hier. Unter den Seilen des Sessellifts. Weder den Sturz vom Sessellift hatte er mitbekommen, noch den Aufprall. Irgendwann war er aufgewacht und hatte geschrien. Ins Leere. Sämtliche Bemühungen aufzustehen, waren misslungen. Der Schmerz in seinem rechten Bein war einfach zu gross gewesen.
Nach einer Weile nahm er das Handy aus der Achselhöhle und startete es neu. Tatsächlich leuchtete das Display. Aber nur einige Sekunden. Dann war der Bildschirm wieder schwarz. Möglicherweise hätte er sogar telefonieren können, vielleicht war nur der Bildschirm defekt. Doch ohne Bildschirm keine Files. Ohne Icons keine Möglichkeit, ins Telefon-Programm zu gelangen. Er verfluchte das Gerät. Hätte er nun ein altes Handy dabei, eines, das noch eine richtige Tastatur hatte. Jetzt konnte er nicht einmal eine SMS senden.
Joël versuchte nochmals aufzustehen. Doch das Bein schmerzte fürchterlich. Er vermutete, dass es gebrochen oder zumindest arg verstaucht war. Er bemerkte, dass sein Anzug blutverschmiert war. Er erinnerte sich an den Faustschlag und griff sich an die Nase. Tatsächlich war diese voll mit eingetrocknetem Blut. Sie tat weh und war wohl gebrochen.
Wahrscheinlich hatten ihn die Typen wegen seiner Kamera attackiert. Er tastete kurz seinen Anzug ab, griff um sich in den Schnee, fand zwar seine Skistöcke, nicht aber die Kamera. «Verdammte Scheisse!» Mit der Kamera war auch das teure 600-mm- Objektiv weg. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», fluchte Joël. Er tastete seinen Rücken ab: Immerhin war sein Rucksack mit den anderen Objektiven noch da. Auch den Fotoharnisch und die Akkus hatten sie ihm gelassen.
Er liess sich in den Schnee sinken und suchte eine Position, in der er keine beziehungsweise nur wenig Schmerzen hatte.
Joël lag einige Minuten. Dann begann es, ihn zu frösteln. Kurz darauf fror er richtig. Er fror sogar fürchterlich, zitterte vor Kälte. Hier oben würde es locker minus 20, minus 30 Grad oder noch kälter werden.
Erst jetzt begriff er, dass er den Sturz vom Sessellift zwar überlebt hatte. Trotzdem würde hier sein Leben zu Ende gehen.
REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Myrta versuchte im Minutentakt, Joël zu erreichen. Doch es kam immer nur die Mailbox. Drei Mal hatte sie die Nachricht hinterlassen, er solle sich bitte melden.
«Meinst du wirklich, es ist etwas passiert?», fragte Martin. Er sass neben ihr auf dem beigen Ledersofa.
«Ja, bestimmt.»
«Vielleicht wollte er dir wirklich nur frohe Weihnachten wünschen und …»
«Nein, Martin, nein, unmöglich. Joël und ich sind keine Freunde, die Nettigkeiten austauschen. Wir telefonieren nur, wenn wir uns wirklich etwas zu sagen haben. Dass der, der angerufen wird, immer gleich hundert Fragen stellt so wie ich vorhin, das ist unser Spiel.»
«Möglicherweise hat er keinen Empfang …»
«Nein, verdammt!», sagte Myrta unwirsch, entschuldigte sich aber sofort. «Sorry, ich versau dir die ganze Weihnacht. Ich verschwinde jetzt. Kannst du mich nach Hause fahren?»
«Klar.»
Myrta legte die Hand auf seine Schulter. Obwohl Martin einen dicken Strickpullover trug, spürte sie wieder seine kräftigen Muskeln.
«Nimm mich in den Arm», flüsterte sie.
Martin tat es. Oder versuchte es. Myrta fand, dass er sich etwas ungeschickt anstellte. Fehlt ihm wohl an Erfahrung.
LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Joël hatte in seinem Leben nicht viele Bücher gelesen. In seiner Jugend waren es neben der schulischen Pflichtlektüre einige Abenteuerromane gewesen, später dann Survival-Bücher und Berichte über Expeditionen in den unwirtlichsten Gegenden der Welt. Dazu waren einige Kriegsberichte gekommen. Denn Joël wollte Kriegsreporter, Krisenfotograf werden. Geklappt hatte das bisher allerdings nicht. Er hatte noch keine Zeitung oder Zeitschrift gefunden, die ihn in einen Krisenherd irgendwo auf der Welt geschickt hätte. Auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten eine solche Reportage zu machen, war ihm doch zu heikel gewesen. In Zeiten der Digital- und Handyfotografie brauchte es in Kriegsgebieten auch keine professionellen Fotografen mehr, um dramatische Szenen festzuhalten. Dessen war sich Joël bewusst. Die Chance, Bilder zu schiessen, die sonst niemand machte, war klein geworden. Und verkaufen liessen sich eh nur die spektakulärsten, da musste er gar nicht auf «gepflegte Reportagefotografie in Schwarz-weiss» machen. Hohes Risiko, hohe Kosten, null Ertrag – die Rechnung hatte Joël schnell gemacht. Deshalb beschränkten sich seine «Kampfeinsätze» auf Auseinandersetzungen zwischen Hooligans zweier Sportmannschaften oder zwischen gewalttätigen Demonstranten und Polizisten. Er kannte Tränengas und Gummischrot, nicht aber Bomben und Gewehrschüsse.
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