«Und du, Myrta? Immer noch beim Fernsehen?», wollte Martin schliesslich wissen.
«Nein», antwortete Myrta kurz angebunden. «Nein, nein.»
«Aber du warst doch bei RTL …»
«Ja, hast mich mal gesehen?»
«Klar. Das war toll.»
«Ja, war es. Aber jetzt bin ich wieder in der Schweiz.»
«Schweizer Fernsehen?»
«Oh mein Gott, nein!»
Da Martin nicht nachfragte, was Myrtas Reaktion «Oh mein Gott!” bedeuten sollte, schwiegen sie einen Moment. Martin verstand nichts vom Fernsehen, und wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht besonders. Myrta überlegte deshalb, was sie dem einstigen Nachbarsbub, der damals als schräger, verschrobener Typ gegolten hatte, erzählen sollte. Sie wollte nicht überheblich klingen. Schliesslich hatte sie in ihrem Leben schon so viel Erfolg gehabt und schon so viel Geld verdient, dass Martin neidisch werden konnte. Davon ging sie jedenfalls aus.
«Ich bin jetzt Chefredakteurin der ‹Schweizer Presse›.»
«Was, tatsächlich? Toll!»
«Kennst du denn das Blatt?»
«Natürlich. Meine Eltern haben es immer noch abonniert. Aber ehrlich gesagt, lese ich es nicht so oft.»
«Weil du meinst, es sei immer noch ein Klatschheftli!»
«Ist es ja auch …»
«Hey, Lucky Luke, du bist immer noch der gleiche Vollpfosten wie damals», fiel Myrta ihm ins Wort, sie bückte sich und lud Schnee auf, den sie gegen Martin schleuderte. Dieser konnte aber ausweichen und griff nun seinerseits ins Weiss. Myrta rannte davon. Die kurze Schneeballschlacht endete damit, dass Martin ausrutschte. Er blieb auf dem Rücken liegen, und Myrta kniete sich neben ihn, um ihn zünftig einzuseifen. Dann liess sie sich neben ihn fallen. Sie spürte Martins Körper.
Es schneite noch immer.
«Deinem Knie scheint es ja wieder gut zu gehen», sagte Martin, nachdem er sich den Schnee aus dem Gesicht gewischt hatte.
Myrta hatte den gestrigen Reitunfall längst vergessen. Erst jetzt kam er ihr wieder in den Sinn. Und auch die seltsame Erscheinung des Sensenmanns.
«Sag mal, was hast du gestern eigentlich da draussen getrieben?», fragte Myrta. «Warum warst du plötzlich zur Stelle?»
«Ich war auf dem Heimweg vom Holzen. Warum fragst du?»
Myrta überlegte kurz, ob sie ihm ihr seltsames Erlebnis erzählen sollte. «Ach nichts. Ein glücklicher Zufall. Vielen Dank nochmals, dass du mir geholfen hast.»
Sie schwiegen. Beide lagen auf dem Rücken und liessen sich die Schneeflocken aufs Gesicht fallen.
«Hast du kalt?», fragte Martin nach einer Weile und schaute Myrta an.
«Nein.»
«Geht es dir gut?»
Myrta schaute den Schneeflocken zu, die auf sie zufielen. «Im Moment geht es mir sehr gut», sagte sie.
Sie drehte sich zu Martin, legte die Hand auf seine Brust und schaute ihm in die grossen, dunkelbraunen Augen. An seinen Brauen hingen winzige Schneeflöckchen.
BERGRESTAURANT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ.
Dort hinten sass also Luis Battista, der Schweizer Wirtschaftsminister, mit einer attraktiven Frau und hielt Händchen. Joël war sich sicher, dass es nicht Battistas Ehefrau war. Er hatte zwar weder Battista noch dessen Gattin je live gesehen, weil der Bundesrat und seine Familie aber häufig im Fernsehen und in Magazinen erschienen, kannte Joël sie bestens. Sie waren beide um die 40, hatten drei kleine Kinder und schienen die perfekte Familie abzugeben. Sie kamen aus Reinach, einer typischen Agglomerationsgemeinde von Basel. Battistas Wahl in das höchste politische Amt war eine für Schweizer Verhältnisse unglaubliche Glamour-Story: Der smarte Mann mit dem rabenschwarzen Haar und Grübchen in den Wangen galt als Hoffnungsträger, stand für eine neue und moderne Politikergeneration. Von den Boulevardmedien wurde er auch als John F. Kennedy oder Barack Obama der Schweiz tituliert.
Wenn Joël nun ein paar Bilder schiessen könnte, würde er locker ein paar tausend Franken verdienen. Er müsste es nur richtig anstellen und mit den verschiedenen Bildredakteuren geschickt verhandeln. Immerhin sass ein Politstar mit seiner Geliebten fast unmittelbar vor Joëls Linse. Joël müsste nur noch abdrücken.
Schade, dass es kein deutscher Politiker war, der würde ihm mehr einbringen. Viel mehr.
Joël ging auf Nummer sicher und liess seine Kamera erst mal unter seiner Jacke. Dafür nahm er das iPhone hervor und tat so, als würde er simsen, Mails checken oder auf Facebook surfen. Er wählte allerdings das Fotoprogramm und knipste unauffällig das Paar. Da Joël das künstlich erzeugte Kameraklicken ausgeschaltet hatte, war nichts zu hören. Er kontrollierte die Bilder und musste einsehen, dass er damit nicht das grosse Geld machen konnte: Battista war nur von hinten zu sehen, die Frau zwar von vorne, aber auch nicht gerade superscharf. Am besten waren die Swarovski-Steine auf ihrer Jacke zu erkennen. Aber immerhin hatte Joël schon mal etwas im Kasten. Und die beiden hatten nichts bemerkt. Er konnte also einen Schritt weitergehen.
Joël stand auf und schlenderte Richtung Theke, als suche er etwas. Als er von der Kellnerin angesprochen wurde, fragte er, ob sie Sonnencrème hätten. Die Kellnerin reichte ihm ein Körbchen mit kleinen Tuben und bemerkte, man müsse sich auch eincremen, wenn die Sonne nicht scheine. So wie heute.
Joël wühlte im Körbchen, holte sein Handy hervor, drehte sich um, Richtung Bundesrat Battista und der Frau, und tat so, als sehe er nicht richtig, was im Körbchen lag, und suche mehr Licht. Dabei hielt er das iPhone so, dass die Linse Richtung Battista zeigte, und drückte ein paar Mal auf den Auslöser.
Er angelte sich eine Tube Sonnencrème und wandte sich wieder der Kellnerin zu: «Danke, diese nehme ich!»
Er setzte sich, schmierte sein Gesicht mit dem Sonnenschutzmittel ein und kontrollierte danach seine neuen Aufnahmen. Eindeutig besser. Battista erkennbar, die Frau auch – sogar, dass sie Händchen hielten. Aber schlechte Bildqualität, unscharf, verwackelt.
Nun holte er seine Kamera aus der Jacke, putzte sie gründlich und legte sie dann auf den Tisch, so dass die Linse direkt auf das Paar gerichtet war. Sein Plan war, auf diese Weise noch einige Fotos zu machen und dann direkt auf den Bundesrat zuzugehen und ihn zu fragen. In der Schweiz waren Politiker immer noch gewöhnliche Menschen, die man in der Regel einfach anquatschen konnte. Ob dies unter den pikanten Umständen allerdings funktionieren würde, da war sich Joël nicht so sicher, deshalb machte er zuerst auf Paparazzo. Er unterlegte die Kamera mit einigen Bierdeckeln, um einen besseren Ausschnitt zu bekommen. Als er zum ersten Mal abdrücken wollte, stand plötzlich ein Mann vor seinem Tisch und verdeckte ihm die Sicht.
Joël erschrak, denn er hatte sich so auf seine Kamera und das Pärchen konzentriert, dass er nicht mitbekommen hatte, was sonst um ihn herum passiert war.
«Allegra», brummte der Mann. «Was gibt denn das?» Es war der Skilehrer mit dem braungebrannten Gesicht und den buschigen Augenbrauen vom Nebentisch, den Joël nicht kannte.
«Ähm, nichts …» stotterte Joël.
«Nichts? Dann ist ja gut.»
Der Kerl schaute zu den anderen Männern am Nebentisch. Sind das Bodyguards, Polizisten?, fragte sich Joël. Das kann nicht sein! Ein Bundesrat braucht das doch nicht. Und die beiden anderen Kerle aus der Gondelbahn, der eine mit dem Knopf im Ohr?
«Sind Sie Polizist? Und wenn ja, was ist los?», fragte Joël und kicherte verlegen.
«Nein, CIA!», sagte der Typ mit finsterer Miene. Doch dann lachte er und liess seine schneeweissen Zähne blitzen. Auch die anderen Männer grinsten. «Nein, kein Problem», meinte der Mann weiter. «Einfach keine Fotos machen, das ist privat hier, okay?»
«Ach, warum …»
Ob es okay sei, wiederholte der Kerl nun forsch.
«Hey, klar!», sagte Joël sofort und packte seine Kamera demonstrativ weg.
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