Die Sonne ging unter, es wurde kälter, Wind kam auf. Myrta genoss das Schaukeln auf ihrem Pferd, betrachtete die Weihnachtsbeleuchtung der Häuser, an denen sie vorbeiritt, und stellte fest, dass da und dort im Vergleich zum letzten Jahr ein paar Lämpchen dazu gekommen waren. In der Ferne waren unten die Stadt St. Gallen mit ihren vielen Lichtern und darüber in den Hügeln die Appenzeller Dörfer zu sehen. Auf den Strassen die Scheinwerfer der Autos. Alles Menschen, die unterwegs zu ihren Liebsten sind, dachte Myrta.
Zu ihren Liebsten?
Vielleicht. Sie war zwar bei ihren Eltern, bei ihrem Pferd, aber nicht bei ihrem Liebsten. Sie war noch nie an Heiligabend bei ihrem Liebsten gewesen.
Sie blickte auf die Uhr. Schon 17.30 Uhr! Höchste Zeit. Sonst bekäme Mama eine Krise. Ihre Schwester und ihr Bruder waren sicher schon da. Und das Filet im Teig im Ofen. «Los, Mister Mystery, heim zu Mama!»
Es war dunkel. Dank des Schnees aber trotzdem hell. Galopp. Der alte Hannoveraner gab Vollgas. Der Schnee wurde nach hinten weggeschleudert. Myrta sah den schwarzen linken Fuss von Mysti. Das war ein gutes Zeichen: Streckte Mysti die Vorderläufe so weit nach vorne, hatte er Spass und war motiviert. Nur der Fuss vorne links war schwarz, die drei anderen Füsse waren weiss. «Yeah!», schrie Myrta. Sie liess die Zügel fast los. Schloss die Augen. Blinzelte. Herrlich! Schloss sie wieder. Öffnete sie.
Das Pferd schnaubte. Plötzlich hatte Myrta das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte um sich, konnte aber nichts erkennen. Also konzentrierte sie sich wieder auf ihren Ritt. Aber irgendwie war sie jetzt angespannt. Das übertrug sich sofort auf das Pferd. Der Galopp wurde holprig. Myrta parierte Mystery, er fiel zurück in Schritt. Doch ihre Anspannung blieb. Der Wald vor ihr war rabenschwarz. Der Weg nach Hause führte da hindurch – ausser, so überlegte Myrta, sie machte einen grossen Umweg. Ach was, sagte sie sich und steuerte auf das Dunkel zu.
Mysti klappte die Ohren nach hinten.
«Musst keine Angst haben, Mysti, da vorne ist nichts», sagte Myrta laut zu ihrem Pferd. Und vor allem zu sich selbst.
Doch es nützte nichts. Im Wald sah sie Gestalten. Augen, die sie anfunkelten. Kameralinsen, die auf sie gerichtet waren. Auch die Geräusche waren ihr plötzlich unheimlich. Bloss Äste im Wind, sagte sie sich.
Kurz bevor sie den Wald erreichte, gab sie Mystery das Zeichen zum Galopp. «Los, schnell hindurch.» Mysti schnaufte und schnaubte.
Myrta kniff die Augen zusammen und versuchte, nur auf das Getrampel ihres Pferdes zu hören. Als sie sie wieder öffnete, waren bereits der Waldrand und das Schneefeld dahinter zu erkennen. Sie schloss die Augen erneut. Öffnete sie wieder, und schon war das Feld hinter dem Wald ein gutes Stück näher gekommen.
Es knackte und krachte neben ihr, aber das war ihr jetzt egal.
«Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …» kam ihr in den Sinn, das Gedicht vom unheimlichen Erlkönig, welches sie in der Schule auswendig gelernt hatte und nun vor sich hin murmelte. Ja, ja, die Waldorfschule. Gedichte gelernt, gemalt, musiziert, Eurythmie gemacht und wenig vom realen Leben begriffen. Ein Gedanke, der ihr jetzt aber gut tat, weil er sie ablenkte. Sie rezitierte laut: «Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm …»
Endlich ritt sie aus dem Wald.
Doch dann sah sie in einiger Entfernung rechts vor sich einen Mann mit einer Kapuze, der eine Sense über der Schulter trug. «Wie irre ist das denn?», hauchte Myrta und schloss erneut die Augen: «Der Erlkönig? Der Sensenmann?»
«Los, Mysti, los!», rief sie und blinzelte.
Der Kerl war nun deutlich am Horizont zu erkennen. Ob es wirklich eine Sense war, die er trug? Vielleicht einen Besen? Im Winter? Eine Schneeschaufel wahrscheinlich. Einen Weihnachtsbaum?
Myrta kniff die Augen zusammen und zählte laut Mystis Galoppsprünge. «Eins, zwei, drei …» Das Pferd schnaubte heftig. «… vier, fünf …» Auf zehn riss sie die Augen auf: Der Mann war weg.
Einige Sekunden später zuckte das Pferd zusammen, die Ohren schnellten nach hinten, der Galopp endete jäh. Myrta flog über Mystis Hals, machte einen Salto und krachte kopfvoran durch den Schnee auf den Boden. Es wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hörte dumpfes Getrampel, das aber schnell leiser wurde. Mysti galoppiert davon, dachte sie, hoffentlich passiert ihm nichts.
LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND
«Geh endlich nach Hause, Phil», sagte Mette Gudbrandsen und legte die Hand auf seine Schulter. «Du wirst es schaffen. Aber nicht mehr heute. Erstens ist heute Sonntag und zweitens Heiligabend.»
«Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich sollte nach Hause gehen. Und ja, ich, das heisst wir werden es schaffen.»
«Nein, du. Ich habe dir nur den Weg geebnet und dich beraten. Aber jetzt ist Weihnachten. Deine Frau wartet sicher auf dich.»
«Mary ist es gewohnt, auf mich zu warten. Wir müssen es schaffen. Unser Chef bringt uns um, wenn wir nicht endlich das Schlussresultat liefern. Ich kann bald nicht mehr, jede Nacht nur zwei, drei Stunden Schlaf …»
«Eben. Geh endlich.»
«Okay. Und was wirst du tun?»
«Ich werde ebenfalls nach Hause gehen, mir eine Flasche Bordeaux gönnen und lange mit meiner Familie in Trondheim skypen.»
«Skypen?»
«Telefonieren übers Internet, mein Lieber. Alles, was nicht mit Wissenschaft zu tun hat, scheint dir relativ fremd …»
«Nein, nein, liebe Mette», unterbrach Phil Mertens und lächelte sie an. «Ich bin mittlerweile auf Facebook, Twitter, Xing, LinkedIn und, ähm …»
«Google plus. Alle sozialen Netzwerke, die ich dir eingerichtet habe.»
«Na ja. Mittlerweile bin ich ganz up-to-date und kenne sogar die komischen Internetkürzel und -zeichen. Und im Übrigen gehöre ich mit meinen fünfzig Jahren langsam zum alten Eisen.»
«Genau, alter Mann!», sagte Mette und lächelte Phil an: «Los, hau endlich ab!»
Phil Mertens fuhr den Computer hinunter, stand auf und zog seinen Barbour-Mantel und die Jack-Wolfskin-Fleecemütze an.
Er breitete seine Arme aus: «Komm her!»
Mette Gudbrandsen kam auf ihn zu, liess sich in die Arme nehmen, und da sie dank ihrer Stiefel mit etwa sechs Zentimeter hohen Absätzen gleich gross war wie Phil, berührten sich ihre Wangen.
«Merry Christmas», sagte Phil.
«Merry Christmas», sagte Mette. «God jul, wie es auf Norwegisch heisst. Og godt nytt år.»
«Happy New Year. Aber wir werden uns noch vor Neujahr sehen.»
«Meinst du?»
«Yeah. Wir müssen es noch in diesem Jahr schaffen. Du weisst, was wir der Geschäftsleitung garantiert haben.»
«Den Schlussbericht vor Weihnachten.»
«Die feiern sicher schon.» Phil Mertens gab Mette einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
“God jul”, wiederholte Mette.
WALD BEI ENGELBURG, ST. GALLEN
Es war nur ein kurzer Moment, in dem Myrta das Bewusstsein verloren hatte. Jedenfalls konnte sie Mystis Galopp noch ganz, ganz leise hören. Vielleicht bildete sie sich das auch ein. Denn nachdem sie aufgestanden war und festgestellt hatte, dass sie den Sturz wohl heil überstanden hatte, glaubte sie, den Galopp noch immer zu hören.
«Toll», sagte sie leise vor sich hin, «meine Familie wird sich schlapp lachen, wenn Mysti ohne mich zur Weihnachtsfeier kommt.»
Sie wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und klopfte die Kleider ab. Dann griff sie in die Innentasche ihrer Jacke, holte ihr iPhone heraus und wählte die Nummer ihrer Eltern.
«Hey!», rief jemand.
Myrta unterbrach den Rufaufbau und steckte das Handy in die Tasche zurück.
«Hey!»
«Ja! Ich bin hier!», schrie Myrta zurück. Schauderte aber plötzlich: Was, wenn das der Mann mit der Sense war?
«Sind Sie die Reiterin?», schrie der Jemand zurück. Es war die Stimme eines Mannes. Myrta antwortete nicht. Allmählich konnte sie in einiger Entfernung im Schnee einen dunklen Fleck ausmachen, der sich bewegte. Je näher dieser kam, desto deutlicher erkannte sie, dass es wohl zwei Flecken waren, und dann war auch schnell klar, dass der eine Fleck eine Person war und der andere ein Pferd. Wenig später schimmerte der weisse Punkt auf der Stirn des Pferdes durch die Nacht.
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