«Nein.»
«Bin ich Alkoholiker?»
«Das wissen Sie selbst am besten.»
«Ich habe manchmal schon morgens einen Cognac oder einen Wodka getrunken. Wodka riecht man nicht. Wissen Sie, was ich meine?»
«Nein.»
«Sie haben keine … Vergessen Sie’s, es geht ja nicht um Sie.»
«Sie sind also zurückgetreten und in ein Loch gefallen?»
«Ich ging aus diesem verdammten Büro hinaus, aus diesem gottverdammten Bundeshaus in Bern. Mein Chauffeur hat mich nach Hause gefahren. Er war der letzte Mensch, der mir die gebührende Ehre zukommen liess. Er sagte: ‹Herr Bundesrat, es war mir eine Ehre, Sie in den vergangenen zwölfJahren herumzufahren. Ich danke Ihnen.› Ist das nicht wundervoll?»
«Ja, es ist sehr nett.»
«Nett? Es ist wundervoll. Es war der ergreifendste Moment meiner Regierungstätigkeit.» Kilian Derungs zog ein Taschentuch aus seinem Veston und tupfte sich die Nase. «Seither werde ich wie ein Stück Scheisse behandelt. Wie ein Stück Scheisse.» Schweigen.
«Auch von Ihrer Frau?»
«Was hat denn meine Frau damit zu tun?»
«Behandelt sie Sie auch wie ein Stück … Scheisse?»
«Meine Frau, tssss, die … die … ach, vergessen Sie’s.» Schweigen. Sehr, sehr langes Schweigen.
«Herr Derungs, ich glaube …»
«Ich heisse alt Bundesrat Derungs, Frau Doktor Schwertfeger!» Schweigen.
Kilian Derungs bemerkte, dass Dr. Schwertfeger immer wieder auf die Uhr neben ihr auf dem kleinen Tischchen schielte. Sie versuchte es diskret zu machen, aber Kilian Derungs bemerkte es trotzdem. «Wir sollten das nächste Mal weiterreden, nicht wahr?», sagte er höflich.
«Mögen Sie nicht mehr?»
«Ich denke, Sie haben noch weitere Patienten …»
«Natürlich, aber das sollte uns …»
«Papperlapapp, schon gut. Immerhin sitze ich im Verwaltungsrat dieser Klinik und bin daran interessiert, dass der Laden läuft. Zudem weiss ich, wie es ist, wenn man die Leute loswerden muss!»
«Ich möchte Sie gar nicht los …»
«Ich bin müde», log Kilian Derungs. «Ich möchte nicht mehr.» Er erhob sich und reichte ihr die Hand: «Vielen Dank, Frau Doktor Schwertfeger.» Er ging mit schnellen Schritten hinaus, schaute auf den Zürichsee hinunter, atmete durch und holte sein Handy hervor. Er hatte während seiner Sitzung weder einen Anruf noch eine Kurznachricht noch ein Mail erhalten. Aber das war ihm für einmal egal. Er rief eine Nummer an, die er unter «Stefan Meier» gespeichert hatte. Derungs verabredete sich in zwei Stunden am «gleichen, schönen, romantischen Ort wie immer». Er lächelte. Er hatte genügend Zeit, ins Hotel zu fahren, zu duschen und sich ein bisschen zu entspannen.
Dann rief er seine Frau an und teilte ihr mit, dass er mit Parteifreund Stefan Meier einen Termin habe und deshalb später nach Hause komme.
Sie konnte ja nicht wissen, dass ihr Mann Stefan Meier abgrundtief hasste und nie auf die Idee käme, diesen auch nur anzurufen.
CONGRESS CENTER, SAAL SAN FRANCISCO, BASEL
Die Medienkonferenz wurde im grössten Saal der MCH Messe Schweiz abgehalten. Neben Staatsanwalt Hansruedi Fässler sassen zu seiner Linken Stadtpräsident Serge Pidoux und Bundesanwalt Filipo Rizzoli. Zu seiner Rechten hatten Armeechef Matthias Erler und Fabian Wirz, Medienchef der Basler Staatsanwaltschaft, Platz genommen. Erler begrüsste die rund hundertfünfzig Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus dem In- und Ausland.
Alex Gaster sass in der vierten Reihe und machte sich Notizen. Jöel Thommen fotografierte die Männer auf dem Podium, wurde aber plötzlich von einem Kameramann am Ärmel gepackt und auf die Seite geschoben. Joël hatte ihm offensichtlich die Sicht verdeckt. Es gab einen kleinen Disput, was den Medienchef kurz ablenkte und ins Stottern brachte. Darauf ging Jöel in die Hocke und fotografierte weiter.
Staatsanwalt Hansruedi Fässler präsentierte nach einer langfädigen Lobesrede auf sämtliche Einsatzkräfte die neusten Fakten. Die Frau, in deren Plüschtier die Bombe platziert war, habe man identifizieren können. Es handle sich um eine fünfundfünfzigjährige geistig behinderte Frau, die in einer geschützten Werkstatt gearbeitet und in einem Heim gewohnt habe. Man könne mit sehr grosser Sicherheit ausschliessen, dass sie die Bombe in ihr Plüschtier genäht habe. Der Sprengsatz sei über Funk gezündet worden. Sie sei darum ein Opfer und keine Täterin. Wer die Bombe versteckt und gezündet habe, sei unklar. Die Spezialisten würden rund um die Uhr sämtliche Spuren und Erkenntnisse prüfen. Mittlerweile sei auch klar, dass die Massenpanik nicht von einer Bombe, sondern von relativ harmlosen Knallkörpern ausgelöst worden sei. Die Mitglieder der in den Medienberichten «Schwarzen Clique» genannten Formation, aus deren Reihen die Sprengkörper geworfen worden seien, hätten noch nicht ausfindig gemacht werden können. Man habe zwar einige der von ihnen benutzten Blechtrommeln, schwarzen Kleidern und Totenkopfschals gefunden, allerdings gebe es noch keinerlei Hinweise auf die Identität der Träger. «Ob es sich bei diesen Leuten tatsächlich um Fasnächtler oder aber um Hooligans, politisch motivierte Aktivisten oder um mutmassliche Terroristen handelt, ist ebenfalls unklar», sagte Fässler zum Schluss. «Wir bitten diese Leute, sich bei uns zu melden. Ebenso sind wir auf Zeugen angewiesen.»
Danach sprach Bundesanwalt Rizzoli. Er sagte so gut wie nichts. Alex schrieb keinen einzigen verwertbaren Satz auf. Armeechef Erler sagte ähnlich viel oder wenig: Die Armee habe alles unter Kontrolle. Selbstverständlich zusammen mit den Polizeikräften. Alex notierte: «Führt sich auf wie ein General.» Stadtpräsident Pidoux präsentierte die «traurige Bilanz» der Massenpanik: sieben Tote, darunter drei Kinder im Alter zwischen sechs und siebzehn Jahren. Sechsundvierzig Verletzte, davon schwebten zwei noch immer in Lebensgefahr. «Es ist eine unfassbare Katastrophe», sagte Pidoux mit gedämpfter Stimme. Er stockte und wischte sich die Tränen ab. Es gab ein kurzes Blitzlichtgewitter der Fotografen. Er fuhr fort: «Die Stadt, die Region, das ganze Land fühlt mit den Opfern und den Angehörigen mit. Wir werden ihnen jede erdenkliche Hilfe …» Der Stadtpräsident stockte erneut. Weinte plötzlich. Blitzlichtgewitter. Pidoux stand auf und verliess den Saal.
KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL
Die Kommissäre hatten die Medienkonferenz am Fernsehen verfolgt. Kaltbrunner murmelte danach: «Die Polizei tappt mal wieder im Dunkeln.»
«Was meinst du?», fragte Giorgio Tamine.
«Och, nichts. Habe mir nur die Schlagzeile von morgen vorgestellt.» Er rief seine Frau Pranee an, erkundigte sich, wie es ihr und Tochter Nazima gehe, machte mehrmals «So, so» und «Hmm, hmm» und sagte schliesslich, dass er wohl im Büro schlafe, wenn überhaupt.
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
Aus der von Haberer geplanten Schlagzeile Terroristen wollen Schweiz ausradieren wurde Terroristen bedrohen die Schweiz . Beim Untertitel setzte sich Haberer gegen Renner und Verlegerin Emma Lemmovski durch: «Aktuell»-Exklusiv: Weitere Anschläge geplant!
Es war 22.54 Uhr, und alles lief wie am Schnürchen. Alex und Henry hatten die neusten Bilder und Texte aus Basel geliefert. Flo Arber beendete mit Kirsten Warren und Peter Renner den Aufmacher-Artikel über die beängstigenden Nachrichten aus dem Deep Web.
Um 23.14 Uhr verliess Peter Renner den Newsroom. Er hatte den Nachtredaktor, der den Abschluss machte und anschliessend die Online-Plattform mit den aktuellsten Meldungen fütterte, genau angewiesen und ihm gesagt, dass er ihn sofort anrufen solle, falls in Basel etwas passiere.
Vor dem tristen Redaktionsgebäude zündete sich Renner eine Zigarette an, eine Marlboro rot. Er nahm einen tiefen Zug. Dann hörte er einen Motor aufheulen, sah Scheinwerfer aus der Tiefgarage auftauchen und murmelte: «Haberer, du alter Schafseckel.» Haberer riss drei Meter vor Renner einen Vollstopp und rief zum Fenster hinaus: «Pescheli, komm, ich fahr dich nach Hause!»
Читать дальше