1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Reporterin Sandra Bosone war nicht besonders guter Stimmung. Ihr war bewusst, dass ihr Einsatz, den sie im Spital für die Interviews mit den Verletzten geleistet und dafür ein etwas schlechtes Gewissen hatte, möglicherweise für die Katz gewesen war. Falls hier etwas Dramatisches passieren sollte, würde ihre Reportage, die sie bereits geschrieben und übermittelt hatte, in den Hintergrund gedrängt.
«Reporterpech», kommentierte Fotograf Henry Tussot ihre Sorgen. «Du weisst gar nicht, was ich alles fotografiere den ganzen Tag. Und dann bringen diese Idioten andere Fotos oder zerstückeln meine Bilder dermassen, dass ich sie kaum wiedererkenne. Merde! Aber so ist das nun mal.»
Um Punkt 17 Uhr lief eine schwarzgekleidete Combo von der Falknerstrasse her auf den Barfüsserplatz. Die Reporter blickten sich an. «Sind das wohl die von Renner angekündigten Pseudofasnächtler, die für Aufregung …», fragte Sandra.
Henry und Jöel rannten los und begannen sofort, Fotos und Videos zu machen. Denn irgendwie sahen diese Fasnächtler nicht wie Fasnächtler aus, sondern wie die angekündigte Chaos- oder Terrortruppe. Alex und Sandra stürmten ebenfalls zu dieser Clique und sprachen mehrere Mitläufer an. Sie fragten, welche Absicht hinter diesem Zug stecke. Antwort erhielten sie keine.
Um 17.03 Uhr enterte die Gruppe, die aus rund fünfundzwanzig Leuten bestand, die Gerüstbühne, auf der am Abend die Gug- genmusiken ihre Konzertauftritte halten.
«Die sehen aus wie der berüchtigte ‹Schwarze Block› aus Zürich», sagte Sandra zu Alex. Der «Schwarze Block» war eine Ansammlung gewaltbereiter junger Menschen, die an Demonstrationen für Ausschreitungen sorgte.
«Hoffen wir, dass nichts passiert. Für eine aggressive Demonstration ist die Fasnacht nun wirklich der falsche …»
In diesem Augenblick gab es einen lauten Knall. Und noch einen. Pyros wurden gezündet. Sekunden später gab es ein riesiges Durcheinander. Fasnächtler und Zuschauer rannten in Panik davon. Einige fielen zu Boden. Kinder schrien. Eltern schrien.
Sandra verlor in diesem Tohuwabohu den Kontakt zu Alex. Sie wurde von hinten angerempelt von einem schwarzgekleideten Kerl mit einem schwarz-weissen Totenkopfhalstuch vor dem Gesicht. Sie versuchte, den Mann zu fotografieren, drückte auf den Auslöser, doch sie stürzte. Als sie sich aufrappeln wollte, sah sie einen Waggis, eine klassische Fasnachtsfigur mit gelber Mähne und einer grossen, roten Nase im Gesicht, mit seinen schweren Holzzoggeli auf sich zu rennen. Sie spürte einen dumpfen Schlag im Gesicht. Alles wurde schwarz. Und dann war es ganz ruhig.
STEINENVORSTADT, BASEL
Kommissär Olivier Kaltbrunner rannte von seinem Büro bei der Heuwaage Richtung Barfüsserplatz und verfluchte sich, dass er nicht in besserer körperlicher Verfassung war. Sein Mitarbeiter Giorgio Tamine war fünf Meter vor ihm und versuchte, in der Steinenvorstadt seinem Chef einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Da durch die Basler «Kinostrasse» Hunderte, wenn nicht Tausende von Leuten Richtung Heuwaage rannten, um sich in Sicherheit zu bringen, war fast kein Durchkommen mehr. Olivier Kaltbrunner keuchte und war nicht unglücklich darüber, dass es nur langsam vorwärts ging. So kam er wenigstens wieder zu Atem. Als er sich einigermassen fit genug fühlte, sagte er zu sich: «Ich muss weniger fressen, weniger Bier saufen und mehr trainieren, Goppeloni.» Dann schrie er: «Polizei! Aus dem Weg! Polizei!»
Ohne grossen Erfolg. Als er mit Tamine den Barfüsserplatz erreichte, hatten die Polizeigrenadiere den gesamten Platz bereits mit Gitterfahrzeugen abgesperrt. In der Luft hing Tränengas. Als er und Tamine an drei Polizeigrenadieren in Vollmontur mit Helm und Schutzmaske vorbei wollten, wurde ihnen mit Schlagstöcken und Schutzschildern der Weg versperrt.
«Ich bin der Kommissär, verdammte Scheisse, was seid ihr für elende Flachzangen?» Er zückte den Ausweis.
Einer der Polizeigrenadiere entschuldigte sich auf Berndeutsch: «Sorry, wir sind nicht von der Basler Polizei, sondern vom Nordwestschweizer Polizeikonkordat.»
«Schon gut», antwortete Olivier Kaltbrunner ruhig. «Dürfen wir jetzt durch?»
«Ich muss erst meinen Gruppenführer frag…»
«Jetzt reicht es aber endgültig!», schrie Kaltbrunner aus Leibeskräften. «Geh zurück nach Bern! Wir sind hier in Basel, und ich bin Goppeloni der Chef hier!»
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
Es gab selten eine Situation, in der Peter Renner nervös wurde. Jetzt aber war er es. Er versuchte seit gut einer Stunde, irgendeinen seiner Reporter in Basel zu erreichen. Doch keiner nahm seine Anrufe entgegen. Auch die Webcam, die auf den Barfüsserplatz gerichtet war, war ausgefallen. Renner wusste lediglich, dass irgendetwas passiert sein musste, aber nicht was. Und das machte ihn nervös.
Auch seine Anrufe bei der Basler Polizei und bei der Staatsanwaltschaft hatten nichts gebracht. Ja, es sei ein polizeilicher Einsatz im Gange, aber man könne keine Auskunft darüber geben. Selbst auf den Onlineportalen der Konkurrenz gab es keine Informationen. Und die ansonsten lebhaften News-Schleudern Fa- cebook und Twitter blieben ebenfalls verdächtig ruhig.
Chefredaktor Jonas Haberer drängte darauf, die morgige Printausgabe von «Aktuell» zu gestalten. Er wolle mit der Opfer-Story von Sandra Bosone, an der er grossen Gefallen fand, die Schlagzeile auf Seite 1 kreieren. Doch Renner vertröstete ihn, es sei wohl noch etwas Grösseres im Gange in Basel. Vermutlich müsse die Redaktion eine Nachtschicht einlegen. Jonas Haberer murrte.
BARFÜSSERPLATZ, BASEL
Alex Gaster hatte sich unter der Bühne der Guggenmusiken versteckt und das Geschehen fotografiert und gefilmt. Er war zufrieden. Seine Aufnahmen zeigten, wie die schwarzgekleideten Typen nach dem Abfeuern von Knall- und Rauchpetarden und dem Abbrennen von Pyrofackeln gezielt Leute attackierten, die fotografierten. Sie rissen ihnen die Handys und Kameras aus den Händen und schleuderten sie auf den Boden. Danach flüchteten sie in die Seitengassen. Zwei Männer waren nahe an Alex vorbeigerannt, hatten kurz angehalten, sich die schwarzen Kleider vom Leib gerissen und waren als gewöhnliche Zuschauer weitergerannt. Auch den Aufmarsch der Polizei hatte Alex fotografiert. Allerdings waren diese Bilder weit weniger dramatisch, denn der Tränengaseinsatz hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stattgefunden.
Jetzt kramte Alex sein Handy hervor, um seinen Chef anzurufen. Nach etlichen Versuchen musste er feststellen, dass er keinen Empfang hatte. Das irritierte ihn. Warum gab es am zentralsten Platz in Basel keinen Handyempfang?
FALKNERSTRASSE, BASEL
Zur gleichen ZeitversuchteJoëlThommen, von der Falknerstrasse her wieder auf den Barfüsserplatz zu gelangen. Er hatte einige Mitglieder dieser schwarzen Clique verfolgt, musste dann aber aufgeben, weil die Leute in der Masse der Flüchtenden untergetaucht waren. Auch hatte er etwas Tränengas abbekommen, was ihn einige Minuten ausser Gefecht setzte. Auch er hatte festgestellt, dass sein Handy tot war.
Der Weg zum Barfüsserplatz war durch Polizeigrenadiere und Gitterfahrzeuge versperrt. Die Polizisten standen breitbeinig da. Einige hielten Gummischrotgewehre und Tränengaskanonen in den Händen. Joël zückte seinen Presseausweis und zeigte ihn den Beamten. Sie wiesen ihn jedoch strikte ab, und befahlen ihm zu verschwinden. Joël versuchte zu diskutieren, keiner der martialisch aussehenden Polizisten ging darauf ein.
Joël beschloss, sich einen anderen Weg zu suchen und ging ein Stück zurück. Plötzlich explodierte etwa zwanzig Meter vor ihm eine Rauchpetarde. Er fotografierte. Dann allerdings geriet er in Panik und rannte zurück, wieder auf die Polizisten zu. Dort bin ich sicherer, dachte er.
«Zurückbleiben! Zurückbleiben!», hörte Joël. Er riss den Presseausweis in die Höhe und schrie: «Ich bin Fotograf, lasst mich durch!» Dann hörte er einen Knall und kurz darauf das Niederprasseln von Gummischrot auf den Asphalt.
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