«Yes», gab Kirsten ein. Sie trank ihren Kaffee und hoffte, der Kerl, der sich «John Fox» nannte, wäre online.
«Melde meinem alten Freund Haberer, dass Basel nur der Anfang war …»
«Soll das ein Joke sein? Wer bist du?»
«Kein Joke. Ich bin John Fox.»
«Sehr witzig.»
«Haberer steht sicher auf dich, Cowgirl …»
UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL
Irgendwie hatte sie Freude an ihrem Job als Boulevard-Ratte entwickelt. Sandra Bosone stand mitten in der Intensivstation des Universitätsspitals und hatte in ihrem Ärztinnen-Outfit Zugang zu sämtlichen Patienten. Sie klapperte alle Zimmer ab, immer auf der Suche nach den am schwersten verletzten Opfern des Bombenanschlags. Die, die sprechen konnten, erzählten ihr sämtliche Details ihrer Odyssee. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, hatten meist Angehörige, die weinten und ihr vertrauensvoll das ganze Elend schilderten. Für Sandra war es ein «Yeah-yeah- yeah»-Effekt, so viele Schicksale auf engstem Raum zu treffen, war für eine Reporterin aussergewöhnlich. Jedes davon eine eigene Geschichte wert. Doch in der Masse gingen die meisten unter, denn unter diesen Umständen war nur noch das grösste Elend interessant. Eine schwerverletzte Mutter, der beide Beine amputiert werden mussten, und deren zwei Kinder, ebenfalls durch Splitter der Bombe verletzt, gab von der journalistischen Relevanz aus gesehen die beste Story. Peter Renner, die Zecke, würde sie lieben für diese Story. Selbstverständlich mit Bild und Video, denn Sandra hatte nicht gezögert, ihre Kamera beim Interview auszupacken und die Szenerie aufzunehmen. Ob die arme Frau je in «Aktuell» erscheinen würde, darauf hatte sie keinen Einfluss. Das würden Peter Renner, Jonas Haberer oder die Anwälte entscheiden. Sie machte nur ihren Job.
Die Idee mit dem gekauften Arztkittel und dem Stethoskop war zwar gut gewesen, aber nicht genügend. Das hatte Sandra schnell gemerkt. Ihr hatte der Ausweis gefehlt. Diesen hatte sie sich allerdings schnell angeeignet. Sie hatte sich einen Kaffee geholt, dann gezielt eine Ärztin angerempelt und ihr den Kaffee über den Kittel geschüttet. Dann hatte sie der «Kollegin» geholfen, sich zig-mal entschuldigt, den riesigen Kaffeefleck verwischt, ihr dabei den Ausweis aus der Brusttasche geklaut und damit den Namen «Dr. Elfriede Kasalski» angenommen. Die Security-Leute hatten sie seither freundlich gegrüsst und ihr sämtliche Türen aufgehalten.
Jetzt hatte sie alles im Kasten. Sie verliess das Spital, zog den Arztkittel aus, versenkte das Stethoskop in ihrer Tasche und rannte zum Kiosk an den Blumenrain hinunter. Dort kaufte sie sich Zigaretten, rauchte zwei und rief Peter Renner an. Er sagte ihr, dass er sie liebe. Danach stürzte sie sich in die Fasnacht. Es war 11.55 Uhr. Der Publikumsaufmarsch hielt sich allerdings in Grenzen, obwohl am Dienstag jeweils Kinderfasnacht war.
Verrückte Welt, dachte Sandra. Aber das war egal. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Pervers. Aber gut. Sandra lächelte.
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
«Kirsten was?», schnauzte Chefredaktor Jonas Haberer seinen Nachrichtenchef an. «Ich kenne diese verdammte Kirschtorte nicht!»
Peter Renner regte sich nicht auf. Er wusste, dass sein Chef sämtliche Namen verhunzte und wunderte sich deshalb nicht im Geringsten. Hauptsache, sein Chef hämmerte nicht schon wieder auf seiner Schulter herum.
«Sie schreibt für uns die Computer- und Game-Kolumne.»
«Was?»
«Ja, mein Lieber, wir haben eine Computer- und Game-Kolumne in unserer Zeitung.»
«Ach, die Schach- und Halma-Tante.»
«Ja, ja, mein Lieber, Schach und Halma spielte man noch kurz nach dem Krieg, du alter Schafseckel!» Jonas Haberer lachte drauflos. So heftig, dass er einen Hustenanfall bekam und zu ersticken drohte. Sein langes, fettiges Haar vibrierte.
«Geht’s, Jonas?», fragte Peter Renner.
Haberer beruhigte und räusperte sich. Dann sagte er: «Los, was will die Halma-Tante, diese Kirschtorte?»
«Sie hat eine Nachricht aus dem Darknet erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass der Anschlag von Basel nur der Anfang wäre. Und dass du auf die Halma-Tante stehen würdest, falls du sie mal sehen würdest.»
Haberer bekam erneut einen Lachanfall. Er dauerte rund zwanzig Sekunden. Danach fragte er: «Wie war das mit der Nachricht? Mit diesem Darknet-Zeugs? Was ist das überhaupt, verdammt?»
«Das ist ein Schatten-Internet. Oder so ähnlich. Jedenfalls etwas Obskures.»
«Und warum soll ich auf die Kirschtorte stehen?»
«Weiss ich nicht.»
«Sie soll herkommen! Sofort!»
«Bist du sicher? Interessiert dich die Story? Ist das nicht zu unseriös?»
«Pescheli, was ist los? Wir sind unseriös! Also her mit der Kirschtorte! Ich geh mich mal rasieren.» Haberer verliess den Newsroom. Renner hörte noch lange seine Schritte und vor allem sein ordinäres Lachen.
CLARAPLATZ, BASEL
Anders als in anderen Jahren füllte sich die Innerstadt nur langsam mit Fasnächtlern. Der Dienstag, der als der schönste Tag der Basler Fasnacht galt, weil kein offizieller Umzug stattfand, war irgendwie kein richtiger Fasnachtsdienstag. Das Attentat überschattete den Tag der Kinderfasnacht und der Guggenmusiken. Cliquen mit Kindern waren nur wenige unterwegs. Die Guggenmusiker trugen Transparente mit Parolen wie «Jetzt erst recht!», «Wir lassen uns die Fasnacht nicht nehmen!» und «Wir haben keine Angst!» Überall standen Polizisten. Nicht nur aus Basel. Das Nordwestschweizer Polizeikorps war aufgeboten worden. Es herrschte Ausnahmezustand.
Um 13.33 Uhr zog eine Gruppe von rund dreissig Personen vom Claraplatz kommend durch die Rheingasse. Die schwarz angezogenen und mit Totenkopftüchern maskierten Menschen trommelten auf Konservendosen und Bratpfannen herum, einige schlugen Pfannendeckel zusammen. Ein Wachtmeister der Polizei fragte einen der Maskierten, zu welcher Clique er gehöre. Der Mann, der ununterbrochen auf eine grosse Büchse klopfte, sagte, sie seien ein «Zyschdigszyygli», ein Dienstagszug, zusammengestellt aus mehreren Trommlern diverser Cliquen. Der Wachtmeister gab diese Information an die Zentrale weiter. Mit dem Hinweis, dass der Mann kein Basler, sondern Zürcher Dialekt gesprochen habe.
WAAGHOF, KRIMINALKOMMISSARIAT, BASEL
Im Büro von Kommissär Olivier Kaltbrunner gab es eine heftige Diskussion. Anwesend waren neben Kaltbrunner Staatsanwalt Hansruedi Fässler, Stadtpräsident Serge Pidoux und Bundesanwalt Filipo Rizzoli. Am Telefon zugeschaltet waren Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann, Vorsteherin des Justizdepartements, sowie Bundesrat Georg Bernauer, Chef des Verteidigungsministeriums. Kaltbrunner war bei dieser Konstellation alles andere als wohl. Er versuchte, sich in seinem Bericht auf das Wesentliche zu beschränken. Die vermeintliche Attentäterin sei vermutlich eine Frau namens Hildegard, genannt Hilde, Haberthür, sie war geistig stark behindert gewesen, hatte im Heim Sonnenstrahl gewohnt und in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Ein Bombenattentat wurde ihr nicht zugetraut, wie die ersten Befragungen der Betreuer ergeben hätten. «Das heisst?», wollte Staatsanwalt Fässler wissen.
«Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen, wir haben noch …»
«Besteht die Gefahr für weitere Attentate?», fragte Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann.
«Also …», begann Kaltbrunner.
«Nein», unterbrach Staatsanwalt Fässler. «Wir haben es mit einer kranken Person zu tun.»
«Unsere Leute sind notfalls bereit», warf nun Militärminister Bernauer ein. «Wir sollten jegliche Panik verhindern. Wir lassen die Fasnacht laufen.»
«Ich finde das keine gute Idee, weil …»
«Danke, meine Damen und Herren, wir haben die Lage im Griff», sagte Stadtpräsident Serge Pidoux.
«So, so, die Armee steht bereit», murmelte Kaltbrunner und lächelte. «Was sagen Sie?», wollte Fässler wissen und hielt sein Ohr zu Kaltbrunner.
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