1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 «Ich bin Fotograf!» Joël rannte. Dann ein weiterer Knall und ein brutaler Schlag ins Gesicht, den Joël schier umhaute. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», haspelte Joël. «Ich bin getroffen.»
Weitere Schüsse. Joël warf sich auf den Boden und schützte seinen Kopf mit den Armen.
BARFÜSSERPLATZ, BASEL
«Lass gut sein», sagte Flo Arber zu Fotograf Henry Tussot, der nach der Knallerei in der Falknerstrasse wegrennen wollte. Die beiden waren vor etlichen Minuten zur Tramhaltestelle geflüchtet, zusammen mit vielen anderen Menschen. «Keine Ahnung, was da abgeht», ergänzte Flo. «Aber das ist kein normaler DemoEinsatz mehr. Möglicherweise ist das hier alles ernst, also ein wirklicher Terrorakt.»
«Merde!», kommentierte Henry. «Dann ist das ja etwas wie Krieg. Auf in den Kampf!» Er packte seine Kamera, hielt sie wie ein Sturmgewehr vor sich und rannte in geduckter Haltung mitten auf den Platz. «Du spinnst doch», rief Flo ihm nach und schaute zu den anderen Menschen im Tramhäuschen. Erst jetzt bemerkte er, dass sich diese umarmten, an den Händen hielten, weinten oder mit offenen Augen ins Leere starrten. Erst jetzt hörte er, dass irgendjemand das Vater unser betete.
FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH
«Gute Show, was?», tippte Kilian Derungs in seinen PC. «Wir haben dafür gesorgt, dass ihr alles exklusiv habt. Aber eben, das war erst der Anfang.» Er schickte das Mail durch die undurchsichtigen Kanäle und Wellen des Deep Webs an Kirsten Warren.
BARFÜSSERPLATZ, BASEL
Weit musste Henry Tussot nicht rennen, bis er die ersten Objekte für seine Kriegsreportage vor die Linse bekam. Er war zwar noch nie in einem Krieg gewesen, doch er wäre gerne Kriegsreporter geworden. Dafür war er allerdings zu spät auf die Welt gekommen: In Zeiten der Digitalfotografie, des Videobooms und des Internets war die Zeit professioneller Kriegsfotografen abgelaufen. Die brutalsten und mörderischsten Bilder wurden heute mit Handykameras aufgenommen und innert Sekunden weltweit verbreitet.
Trotzdem: Dieser Platz war nun sein Schlachtfeld. Da lag ein Fasnächtler mit einer klaffenden Wunde am Kopf am Boden, dort ein Kind, das schrie, daneben eines, das nicht schrie, auch nicht jammerte, aber immerhin atmete. Henry fotografierte alle, nachdem er sich kurz nach dem Befinden erkundigt und festgestellt hatte, dass niemand lebensbedrohlich verletzt war. Als er sah, dass die Sanität eintraf, fotografierte er nur noch. Er wusste, dass er wahrscheinlich schon bald von einem uniformierten Muskelprotz abgeführt werden würde.
Er fotografierte ununterbrochen. Fasnachtstrommeln mit zerrissenem Fell, Piccolos in Konfettibergen, zerrissene Laternen, zertrampelte Masken. Und er fotografierte Menschen, die herumlagen. Es lagen viele herum. Henry war sich sicher, dass er auch Tote fotografierte. Nein, das war nicht unmoralisch. Jemand musste das tun. Davon war er zwar nicht ganz überzeugt, aber es tat gut, daran zu glauben.
Eine Frau, kostümiert als Clown, lag auf den Tramschienen, ihr Kleinkind – ebenfalls im Clownkostüm – hatte sie zum Schutz unter sich gelegt. Das Kind hatte die selbstgebastelte Maske noch auf dem Kopf. Es war eine Larve aus einem Schuhkarton und mehreren Toilettenpapierrollen, liebevoll, wenn auch ein bisschen ungeschickt bemalt und mit roten Papierhaaren verziert. Es war ein unglaubliches Sujet, wie Henry sofort erkannte. Der kleine, süsse Clown unter der Clownmutter, die weit aufgerissenen Augen der Mama, das Entsetzen in ihrem Gesicht. Henry kniete sich hin und ging ganz nah ran, nahm sich Zeit. Jetzt sah er: Aus den Sehschlitzen der Larve des kleinen Clowns rannen Tränen, echte Tränen. Er vernahm jetzt auch das Wimmern des Kindes, sein Schluchzen und Schlucken.
«Was ist passiert?», fragte er die Frau und hoffte, dass sie … ja, sie brach auch in Tränen aus … Henry schaltete den Blitz ein … zack! … die Frau zuckte zusammen … «Excusé moi!» … Mann, war das ein Shot! …
Henry stand auf und fotografierte weiter wie ein Verrückter. Dann rannte er weiter, immer noch in geduckter Haltung. Er entdeckte Blutspuren, einen verlorenen Schuh, einen liegengebliebenen Rucksack, eine weggeschmissene Maske, noch eine Larve, einen leeren Kinderwagen, einen leeren Leiterwagen, gelbe, goldene, rote und blaue Räppli, Konfetti, einige blutgetränkt. Weiter, weiter.
Plötzlich entdeckte er Sandra Bosone. «Sandra!», schrie Henry. Aber sie antwortete nicht. Ohne durch den Sucher seiner Kamera zu gucken, drückte er ständig den Auslöser, fotografierte alles, was rund um ihn herum passierte. Er fotografierte auch Sandra, ihren Körper, ihr Gesicht, die Wunde an ihrem Kopf, das Blut in ihren dunkelblonden, kurzen Haaren, und gleichzeitig versuchte er, den Puls seiner Kollegin zu fühlen!
«Hilfe!», schrie er. «Hilfe! Hier liegt eine Tote!»
RATHAUS, BASEL
Um 18.33 Uhr beschlossen die Basler Regierung, die Vertreter des Krisenstabs, die Polizeiverantwortlichen und die Staatsanwaltschaft, die Fasnacht per sofort für beendet zu erklären. Der Entscheid würde wie in einem Katastrophenfall nicht nur über die Medien, sondern auch mit Lautsprecherwagen in der ganzen Stadt verkündet. Zudem solle die Bevölkerung aufgerufen werden, zu Hause zu bleiben.
Erneut wurde der Einsatz der Armee diskutiert. Allerdings nur kurz: Unterdessen waren sich alle einig, dass die zivilen Kräfte die Lage nicht mehr unter Kontrolle halten könnten, falls weitere Anschläge stattfänden. Stadtpräsident Serge Pidoux informierte sofort Militärminister Georg Bernauer. Dieser, so stellte Pidoux verärgert fest, konnte einen freudig erregten Unterton nicht unterdrücken: Endlich ein Ernstfall für seine Armee.
BARFÜSSERPLATZ, BASEL
«Zu welchem Schluss kommst du?», fragte Olivier Kaltbrunner Giorgio Tamine.
«Ich bin mir nicht sicher. Diese Brandspuren hier …»
Olivier Kaltbrunner nahm seine Brille mit dem dünnen Goldrand ab, kniete nieder, rieb mit den Fingern ein wenig Brandstaub vom Boden und roch daran. «Also für mich riecht das wie ganz normale Asche, wie sie beim Abfackeln von Pyros zum Beispiel an Fussballspielen entsteht.» Er hielt seine Finger Tamine hin. «Ja, das kann ich bestätigen», sagte Giorgio Tamine, nachdem er an Olivier Kaltbrunners Fingern geschnuppert hatte.
«So, so, du kannst das bestätigen», wiederholte Kaltbrunner. Er ärgerte sich einmal mehr über den polizeilich-korrekten Ton seines Mitarbeiters. Bestätigen - irgendwie hatte Tamine den Wechsel vom uniformierten Polizeidienst in die Staatsanwaltschaft, der das Kommissariat unterstellt war, noch immer nicht vollständig geschafft.
Olivier Kaltbrunner stand auf, wischte seine Finger an der Hose ab, setzte die Brille auf und sagte: «Wir haben es hier nicht mit Bomben zu tun. Das war auch kein Attentat.»
«Bist du dir sicher?»
«Nein. Aber wenn ich die Verletzungen der Menschen anschaue und höre, was die Sanitäter erzählen, dann wurden diese Leute, die hier herumliegen, niedergetrampelt. Es gab durch die Knallerei dieser schwarz angezogenen Idioten schlicht und ergreifend eine Massenpanik.»
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
Praktisch die ganze Redaktion, bis auf wenige Online-Journalisten, drängte sich ins Sitzungszimmer und schaute gebannt auf Peter Renner. Der Nachrichtenchef trug sein Headset und versuchte, einen der «Aktuell»-Reporter in Basel zu erreichen. Doch es meldeten sich nur die Mailboxes der Journalisten oder einfach eine Frauenstimme, die mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar sei. Die Redaktorinnen und Redaktoren konnten mithören, da Renner sein Telefon mit der Lautsprecheranlage verbunden hatte. Selbst Jonas Haberer blieb stumm. Alle erwarteten, dass er jeden Moment ein fürchterliches Donnerwetter loslassen würde. Doch dieses blieb aus. Haberer sagte nichts. Entweder war das Piep-piep-piep aus den Lautsprechern zu hören oder: «Der gewünschte Mobilteilnehmer …» Allen war es absolut unverständlich, warum keine Verbindung nach Basel möglich war. «Hast du es schon mit SMS oder WhatsApp oder via Facebook versucht?», fragte ein junger Onliner.
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