«Ja», murrte Renner. «Twitter ist übrigens auch tot, was Basel betrifft.» Ihm war klar, dass sich die jungen Journalisten nicht vorstellen konnten, dass Menschen oder ganze Regionen einfach einmal nicht erreichbar sein konnten. Diese jungen Leute waren alle mit Smartphones, Computern und Social Media aufgewachsen. Wieder herrschte Stille.
«Wo ist eigentlich die Halma-Tante?», fragte Haberer plötzlich. Allerdings nicht im erwarteten Kasernenton, sondern ganz normal, fast schon freundlich. «Ich meine diese Kirschtort… also Kristen oder wie sie heisst.»
Das erstaunte selbst Peter Renner. Er hatte es noch nicht oft erlebt, dass Haberer einen Versuch wagte, einen Namen richtig auszusprechen. «Kirsten meinst du?»
«Meint ihr mich?», meldete sich nun Kirsten Warren mit ihrem englischen Akzent zu Wort. «Sorry, ich habe nicht verstand…»
«Schon gut», unterbrach Haberer, aber immer noch nett. «Kannst du erklären, was das soll?»
«Yes. Ich denke die Leute, mit denen wir es hier zu tun haben, haben die Handynetze und die Logins zu Facebook, Twitter, Mail und Co gekappt. Anders kann ich nicht erklären, was hier passiert.»
«Gekappt?», fragte Renner.
«Yes. Ich bekam von unserem Freund …»
«Danke!», schrie Haberer nun in seiner gewohnten Lautstärke mit seinem ebenso bekannten Unterton. Doch irgendwie war es für alle Anwesenden eine gewisse Erleichterung: Der Chef schien wieder normal zu werden, also war vielleicht doch alles in Ordnung mit ihren Kolleginnen und Kollegen in Basel. Renner schaute zu Haberer und nickte. Eigentlich hätte er Kirsten Warren unterbrechen müssen, da sie gerade daran war, ein Geheimnis zu verraten, von dem bis jetzt nur sie, Renner und Haberer wussten: Das Geheimnis der Nachrichten aus den obskuren Tiefen des Internets. Plötzlich ertönte über die Lautsprecheranlage ein normaler Summton. «Flo, nimm endlich ab!», sagte Renner. Es raschelte und knackste.
«Ja, Flo Arber?» Alle im Meetingroom atmeten auf.
«Was zum Teufel macht ihr verdammten Anfänger eigentlich an dieser Scheiss-Fasnacht?», schrie Jonas Haberer. «Seid ihr besoffen, bekifft oder beides? Herrgottsack, Flöli, ihr seid am Leben! Wir hatten eine Scheissangst um euch!»
BARFÜSSERPLATZ, BASEL
Henry Tussot, der Möchtegern-Kriegsreporter, hatte einen Schock erlitten und wurde von Sanitätern versorgt. Immer wieder fragte er: «Est-ce que Sandra est morte? Est-elle morte?» In seinem Zustand konnte der gebürtige Westschweizer kein Deutsch mehr.
Obwohl eine junge Sanitäterin immer wieder antwortete, dass seine Kollegin nicht tot, aber schwer verletzt sei, wiederholte Henry die Frage ständig. Sie sei bereits ins Spital gebracht worden, erklärte ihm die Frau ebenfalls mehrmals. «Sandra est morte?!» Henry zitterte. Er begann zu schluchzen.
NOTFALLSTATION, UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL
Die Warterei machte ihn madig. Zwar konnte Joël wegen seiner Verletzung durch das Gummischrot kaum noch etwas sehen, doch die grünen Wände des Eingangsbereichs der Notfallstation irritierten ihn. Zudem konnte er das Gestöhne und Gejammer der anderen Verletzten nicht mehr ertragen. Wer nicht in Lebensgefahr schwebte, musste in diesem grünen Raum warten und konnte darauf hoffen, dass irgendwann sein Name aufgerufen wurde.
Wie er hierhergekommen war, wusste er nicht mehr genau. Jemand hatte ihn wohl auf der Strasse gefunden und hierhergebracht. Langsam kam er aber wieder zu sich. Er prüfte, ob er seine Fotokamera noch hatte. Ja, sie war da. Das war das Wichtigste.
Jetzt müssen meine Bilder aber subito in die Redaktion geschickt werden, befahl er sich selbst. Wie spät ist es wohl? Meine Güte, ich verpasse den Redaktionsschluss! Und ich habe kein einziges Foto im Blatt!
Er stand auf und ging Richtung Ausgang, stiess aber mit jemandem zusammen. Er tappte weiter und lief gegen eine Wand. Jemand fragte ihn, wohin er wolle. Er müsse hinaus, Luft schnappen. Die Person, vermutlich eine Frau, aber da war sich Joël nicht sicher, führte ihn hinaus und sagte, er müsse jemand anderen bitten, ihn zurückzuführen. Joël fragte, ob er oder sie so nett wäre, ihn auf dem Handy mit seinem Chef, Peter Renner, zu verbinden, denn Joël konnte auf dem Display nichts erkennen. Seine Augen waren viel zu stark verschwollen.
«Alles okay bei dir?», fragte Renner.
«Ja», log Joël.
«Wo bist du?»
«Vor dem Spital.»
«Warum denn das?»
«Spielt keine Rolle.»
«Okay. Du triffst dich jetzt mit Flo und Alex. Die beiden sitzen beim Tinguely-Brunnen und schreiben Texte. Du musst alle Bilder von dir und auch jene von Henry und Sandra auswählen und subito mailen. Wir stehen unter Druck, Redaktionsschluss ist in einer Stunde. Verstanden?»
«Okay. Warum können Henry und Sandra das nicht …»
«Sie sind verletzt.»
«Okay.»
«Bei dir ist alles klar?», fragte Renner nach. «Du klingst irgendwie komisch.»
«Nein. Geht schon.»
«Was zum Teufel ist mit dir?»
«Nichts. Kommt gut.»
«Du bist auch verletzt, stimmt’s? Warum sagst du das nicht? Bleib, wo du bist! Wart, bleib am Telefon …»
Joël hörte wie Renner über eine zweite Leitung mit Alex sprach. Er müsse Joël beim Spital abholen. «Nein, es geht schon, Peter. Gib mir einen Moment!» Renner antwortete nicht. «Ich Idiot», murmelte Joël. «Die schmeissen mich raus. Ich gehe einfach immer zu weit und bekomme auf die Schnauze, das …»
«Joël?»
«Ja!»
«Alex und Henry kommen. Was ist los?»
«Nichts. Ich habe es einfach vermasselt … ich wollte den Kerl foto… dann … scheisse, ich hab Durst …»
«Joël!»
«Ja. Hier. Wer ist am Telefon …»
«Ich bin es, Renner, die Zecke, Peter!»
«Kannst mich rausschmeissen, Zecke. Oder Haberer, der Kotzbrocken. Ich kann’s einfach nicht. Ich bin ein mieser Reporter … ein ganz mieser …»
«Joël, beweg dich nicht von der Stelle! Die beiden werden gleich bei dir sein. Rede jetzt einfach mit mir. Hörst du? Was ist passiert? Erzähle es mir. Ruf um Hilfe!» Peter Renner klang plötzlich sehr weit weg.
«Joël!»
«Ich … ich …»
24. Februar
JURASTRASSE, LORRAINE-QUARTIER, BERN
Nach knapp zwei Stunden Schlaf piepste Peter Renners Smartphone. Es war der Weckruf. Renner stellte sich kurz unter die Dusche und trank drei Espressi. Dann machte er sich auf den Weg in die Redaktion.
Vermutlich war der gestrige Tag der bisher schlimmste seiner ganzen Journalistenkarriere gewesen. Nicht die Ereignisse und die Hektik hatten ihn kaputt gemacht, sondern die Tatsache, dass er von fünf Reportern drei verloren hatte. Hatte er zu viel von ihnen gefordert? Lohnte es sich wirklich, die Gesundheit, ja vielleicht, das Leben aufs Spiel zu setzen für eine Reportage? Übten er, Jonas Haberer und auch Emma Lemmovski, zu viel Druck auf die Mitarbeitenden aus?
Renner versuchte sein schlechtes Gewissen mit den Tatsachen zu beruhigen. Denn Henry würde sich schnell erholen, er hatte wirklich nur einen Schock erlitten. Joël hatte zugeschwollene Augen und eine Gehirnerschütterung. Das brauchte zwar Zeit, doch Joël würde ziemlich sicher wieder ganz gesund werden. Allerdings war noch eine Untersuchung seiner Augen nötig.
Sorgen machen musste man sich hingegen um Sandra Bosone. Sie lag mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma. Es war noch unklar, ob das Trauma ein schweres oder ein mittelschweres war. Deshalb waren auch ihre Heilungschancen noch ungewiss. Mehr hatte Peter Renner gestern Nacht nicht erfahren. Er hatte kurz mit Sandras Mutter telefoniert und ihr von Seite der ganzen Redaktion Unterstützung und Mitgefühl zugesagt. Das hatte Frau Bosone aber nicht beruhigen können. Sie hatte während des Telefonats die ganze Zeit geheult, während ihr Mann am Steuer sass. Bosones waren mit dem Auto von ihrem Wohnort Gockhausen bei Zürich nach Basel unterwegs.
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