«Um 17 Uhr explodierten die Bomben auf dem Barfi …», sinnierte Tamine.
«Die Petarden, Giorgio, die Petarden, es waren keine Bomben», korrigierte Kaltbrunner.
«Das ist doch kein Zufall, wenn ihr mich fragt», sagte René. «Aber ihr fragt mich ja nicht.»
«Das war Sabotage», wiederholte Tamine Kaltbrunners Worte. «Du hast Recht.»
«Es war vielleicht doch ein Terrorangriff.»
«Aus dem Internet?»
«Ich weiss es nicht.» Olivier Kaltbrunner stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Unter seinem Büro fuhr ein gelbes 10er-Tram der Baselland-Transporte Richtung Stadt vorbei. Doch, irgendwie ist dieser Tag doch normal, dachte er. Dann knüpfte er die Fakten, Vermutungen und Spekulationen weiter zusammen: «Erst ein kleines Bömbchen einer geistig Behinderten. Dann einige Pyros am nächsten Tag. Und schon hast du eine Massenpanik.»
«Und was soll die Sabotage des Internets und der Handynetze?», fragte Tamine.
«Und warum waren nur ‹Aktuell›-Reporter anwesend?», fragte Kaltbrunner zurück.
«Na ja, also anwesend waren schon auch andere Fotografen und Reporter. Aber sie haben einfach nicht diese Bilder, weil sie entweder zu weit weg waren oder was weiss ich. Ich meine, die Abfacklerei der Pyros dauerte höchstens einige Sekunden.»
«So, so», machte Kaltbrunner. «So, so.» Er schnappte sich die anderen Zeitungen und ging auf die Toilette.
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
«Was meinst du, Jonas, sollten wir nicht unsere Verlegerin mit einbeziehen?», fragte Peter Renner. Er sass zusammen mit Haberer in dessen Büro, das der Chefredaktor abgeschlossen hatte. Das tat er eigentlich nie. Aber er hatte Grund dazu. Was die beiden zu besprechen hatten, war geheim und von allerhöchster Brisanz.
«Die Lemmo?», fragte Haberer und lachte. Er lag mehr, als dass er sass, auf seinem Stuhl und hatte die Beine auf den Konferenztisch gelegt. Unter seinen Boots bildete sich auf dem weissen Tisch ein kleiner Berg aus Sand und Erde. «Also die Lemmo muss nun wirklich nichts davon wissen.»
«Emma Lemmovski gehört immerhin die Zeitung, und sie sollte wissen, wenn wir …»
«Die Zeitung gehört vor allem ihrem Alten, Kamerad Dave, der hat die Kohle. Und dank uns ist seine Emmi beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken.» Haberer prustete los, der Tisch zitterte heftig, das Schmutzhäufchen wuchs.
«Solltest mal deine Schuhe putzen», sagte Renner trocken. Darauf bekam Haberer einen Lachanfall.
Plötzlich wurde er ernst: «Pescheli, wir ziehen jetzt das mit unserer Kirschtorte durch. Und wir reden erst mit irgendjemand anderem darüber, wenn die Story draussen ist und wir vor Exklusivität geplatzt sind.»
«Und wenn alles ein Fake ist, eine Ente?», wandte Renner ein.
«Das ist keine Ente. Dieser John Knox …»
«Fox!»
«Ist ja egal. Also, dieser Kerl hat uns die gestrige Show auf dem Platz in Basel angekündigt. Wir hatten alles exklusiv. Also, was willst du mehr? Der blufft nicht. Ich sage dir, Pescheli, da ist ein ganz grosses Ding im Gang. Da geht es um eine riesige Sache. Und wir sind mittendrin. Wenn mich dieser Fux kennt, dann von früher, als ich Politjournalist im Bundeshaus war. Der führt etwas im Schilde. Und wir werden herausfinden was. Und wir werden auch herausfinden, wer dieser Kerl ist. So schwierig kann das nicht sein. So viele kommen nicht in Frage. Der Anteil an dummen Nüssen ist unter Politikern extrem hoch. Also wird das für uns kein Problem sein. Und dann machen wir ihn fertig. Dann machen wir ihn und die ganze Organisation, die dahinter steht, kaputt!»
«Was ist denn mit dir los? Ich bin es normalerweise, der sich so in eine Story verbeisst, Jonas. Ich bin die Zecke. Du bist bloss der Kotzbrocken.»
«Werde ich auf der Redaktion immer noch so genannt?» Jonas Haberer schaute seinen Stellvertreter plötzlich mit reuigem Hundeblick an. Ein Ausdruck, den Renner erst ein- oder zweimal gesehen hatte. Und dann war immer mindestens eine Frau dabei. Eine mit langen, blonden Haaren …
«Logisch, du bist ja auch ein Kotzbrocken.»
«Gut. Das gefällt mir. Ich eröffne gleich ein Facebook-Profil. Jonas Kotzbrocken. Gefällt …»
«Stopp, stopp, stopp», rief Renner laut und hoffte, einen erneuten Lachanfall seines Chefs zu unterbinden. Aber er hatte keine Chance. Der Dreck wurde durch einen heftigen Schlag von Haberers Beinen auf den Tisch in die Höhe katapultiert und über die ganze Fläche verteilt.
«Sag mal, Pescheli», sagte Haberer ganz ruhig. «Was spürst du im Urin? Topstory oder Flop?» Peter Renner schloss die Augen.
«Na? Mach‘s nicht so spannend!»
Renner, die Zecke, liess sich Zeit. Dann sagte er zögernd: «Top …»
Haberer prustete los, schlug Renner auf die Schulter und marschierte davon. Klack – klack – klack.
INTENSIVSTATION, UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL
Eine Maschine piepte im Rhythmus von Sandras Herzen. Henry Tussot machte dieses Geräusch schier wahnsinnig. Am liebsten hätte er den Apparat aus dem Fenster geworfen.
Er selbst hatte sich von seinem Schock einigermassen erholt. Sandra durfte er nur besuchen, weil ihre Eltern es ihm erlaubten. Er hatte sich ihnen gegenüber nicht nur als Arbeitskollege, sondern auch als Sandras bester Freund ausgegeben. Und da Sandra ihren Eltern offenbar schon einiges über Henry erzählt hatte, liessen sie ihn zu ihr. Sandra lag im Koma. Wie stark ihre Hirnverletzung war, konnte noch nicht diagnostiziert werden. Sagten jedenfalls die Ärzte. Henry regte sich darüber auf. Aber irgendwie half ihm auch das nicht weiter. Es war einfach elend. Er hielt ihre Hand. Sie war so wunderschön zart. So verletzlich.
«Mach keinen Scheiss», flüsterte er Sandra zu. «Wir sind Reporter, keine Opfer, hörst du?» Er drückte ihre Hand. «Wir schaffen das! Du bist stark! Wir sind stark!» Er küsste Sandras Hand.
KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL
Als Kaltbrunner von der Toilette zurückkam und erneut zum Fenster hinausschaute, brach ein lautes «Goppeloni!» aus ihm heraus. «Was ist los?», fragte Giorgio Tamine.
«Das musst du gesehen haben: Hier wimmelt es von Soldaten der Schweizer Armee!» Tatsächlich marschierten Hunderte von Armeeangehörigen vom Zoo Richtung Innenstadt. «Das kann ja heiter werden», kommentierte Kaltbrunner. «Endlich haben die Deppen etwas Gescheites zu tun.»
CLARAPLATZ, BASEL
Ab 13.30 Uhr strömten trotz Fasnachtsverbot Hunderte von Kostümierten in die Innerstadt. Es spielte niemand auf seinem Instrument, nur wenige sprachen miteinander im Flüsterton. Es war ein wunderbarer Sonnentag. Alle trugen einen schwarzen Schal, eine schwarze Mütze oder ein schwarzes Kostüm. Viele hatten Blumen dabei.
Die Polizei und die Armee beobachteten die Leute. Der Stadtpräsident, die Polizei– und die Armeeführung waren zum Schluss gekommen, den angekündigten Trauerzug zum Barfüsserplatz nicht zu verhindern. Über Facebook und Twitter und über Radio und Fernsehen hatte die Polizei allerdings gebeten, danach sofort wieder nach Hause zu gehen.
Um 13.45 Uhr formierte sich der Zug am Claraplatz beziehungsweise an der Clarastrasse. Zuvorderst stand die Guggenmusik Negro-Rhygass ein. Danach weitere grosse Guggenmusiken wie die Ohregribler, bei denen normalerweise Olivier Kaltbrunner mittrompetete, die Schränz-Clique, die Schotte-Clique und andere, dahinter die grossen Trommel- und Pfeifervereine wie die Vereinigten Kleinbasler, die Wettstai-Clique oder die Olymper.
Punkt 14 Uhr pfiff der Major der Negro. Es wurde noch stiller in der Stadt. Ein grossgewachsener Tambour in einem Clownkostüm mit einer Plastiksau auf dem Kopf rief: «Langer Wirbel, vorwärts, Marsch!» Trommelklänge und Paukenschläge hallten durch die Strassen und Gassen. Danach intonierten die Blasmusiker der diversen Guggenmusiken den Gospel-Song «Just a Closer Walk with Thee». Der riesige Zug setzte sich langsam in Bewegung. Schritt für Schritt. Es wurde eine Prozession. Als der Zug am Barfüsserplatz ankam, legten die Fasnächtler ihre Blumen auf die grosse Treppe. Niemand sprach ein Wort.
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