REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
Der Trauerakt in Basel gab für Peter Renner eine schöne, emotionale Reportage ab. Sein Reporter Alex Gaster würde einen ergreifenden Text verfassen, Fotograf Joël Thommen die passenden Bilder dazu liefern. Renner machte sich diesbezüglich keine Sorgen. Leider war noch vor dem Aufschalten der Bilder und Clips von Joël auf «Aktuell»-Online ein Video auf Youtube zu sehen. Gegen diese gigantische Plattform hat niemand eine Chance, sagte sich Renner und ärgerte sich nicht wirklich darüber.
Was ihn mehr beschäftigte, war der Gesundheitszustand von Sandra Bosone und die Reaktion von Henry Tussot. Renner hatte bis heute nicht gewusst, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Allerdings hatten auch alle anderen Journalisten, die Renner gefragt hatte, nichts davon gewusst. Umso mehr erstaunte ihn Henrys Totalausfall. Der etwas dickliche Romand spielte normalerweise gerne den harten Hund und den Charmeur, was bei Frauen meist gut ankam. Allerdings nur für einen Abend. Dass Henry Tussot sich verlieben könnte – das konnte sich eigentlich auf der ganzen Redaktion niemand vorstellen. Henry war doch ein Lebemann, ein Gigolo, ein Dandy.
Was dem Nachrichtenchef aber am meisten zusetzte, waren die Botschaften aus dem Deep Web. Haberer hatte bereits den Titel kreiert: Terroristen wollen Schweiz ausradieren, Untertitel: «Aktuell»-Exklusiv: Weitere Anschläge geplant! Renner war zwar mit allen journalistischen Wassern gewaschen, doch das machte sogar ihm irgendwie Angst. Zumindest löste es ein ziemlich ungutes Gefühl in ihm aus. In einer Stunde würde die oberste Chefin, Verlegerin Emma Lemmovski, auftauchen und ein Machtwort sprechen. Auf sie musste selbst Chefredaktor Haberer hören. Zumindest musste er sie anhören. Renner könnte sich dann aus der Verantwortung ziehen. Schliesslich war er nur Nachrichtenchef und Stellvertreter des Chefredaktors.
Peter Renner liebte seinen Job. Er wusste allerdings auch, dass er keinen anderen mehr finden würde. Zu lange war er im Boulevard-Journalismus tätig. Zu lange bildete er ein Gespann mit Jonas Haberer. Zu lange war er letztlich der willige Helfer einer der umstrittensten Figuren im Schweizer Journalismus.
Renner hatte schon früh an diesem Tag seinen Reporter und Wirtschaftsfachmann Flo Arber aus Basel nach Bern zurückbeordert. Er musste ihm bei dieser schwierigen Recherche helfen. Ihm und der Internet-Spezialistin Kirsten Warren. Die beiden waren seit Stunden daran, zu telefonieren, zu googeln und zu schreiben. Renner war froh, dass er zwei seriöse und genau recherchierende Journalisten an seiner Seite wusste.
Um 16.34 Uhr flog die Glastür zu seinem Newsroom auf. Renner hatte für einmal Haberers Schritte nicht gehört. Oder versuchte Haberer tatsächlich, mit seinen Boots weniger laut aufzutreten? Denn hinter ihm betrat Emma Lemmovski das Büro. Die langen, blonden Haare trug sie offen. In ihren High-Heel-Stiefeln war sie gleich gross wie Haberer. Sie sah wie immer umwerfend aus. Fand Renner. Trotzdem versuchte er, cool zu bleiben.
KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL
«Die Stadt ist praktisch wieder menschenleer», rapportierte Giorgio Tamine. «Die Leute halten sich an die Empfehlung, auf die Fasnacht zu verzichten.»
«So, so», machte Olivier Kaltbrunner.
«Wir haben Anfragen von grossen Firmen wie Novartis, Roche, UBS und anderen, ob die Sicherheit in Basel noch …»
«Mich interessieren die Pharma- und Bankfuzzis im Moment überhaupt nicht», wetterte Kommissär Kaltbrunner. «Ja, wir haben alles im Griff!»
«Okay», erwiderte Tamine leise. «Ich werde das so weitergeben.»
Eine gute Minute später sagte Kaltbrunner: «Wir haben gar nichts im Griff. Niemand hat noch irgendetwas im Griff. Was hier passiert ist, übersteigt unsere Fähigkeiten. Wir werden Hilfe benötigen.»
«Hilfe?»
«Ja, Hilfe.»
«Wozu? Von wem?»
«Von internationalen Terrorexperten.»
«Terrorexperten? Nur weil sich eine Irre in die Luft … und dann eine dämliche Massenpanik entstand …»
«Giorgio!», unterbrach Kaltbrunner. «In wenigen Stunden wird es hier von amerikanischen, britischen und deutschen Arschlöchern nur so wimmeln.»
PRIVATKLINIK OB DEM WALD, MÄNNEDORF
«Wie geht es Ihnen?»
«Gut.»
«Gut?»
«Ja. Gut.» Schweigen.
«Wollen Sie dieses ‹gut› näher beschreiben?»
«Ja.» Schweigen.
«Herr Derungs?»
«Es fühlt sich an wie nach geilem, versautem Sex.»
«Oh.»
«Ja. Wie wenn ich die billigste Nutte erbarmungslos gevögelt hätte.» Schweigen.
«Und wie fühlt sich das an? Können Sie das beschreiben? In Worte fassen?»
«Nein. Ich Idiot habe es ja nie getan.»
«Was?»
«Ich habe meine Frau nie mit einer Hure betrogen, ich habe mich anders …» Kilian Derungs zögerte.
«Ja? Wie haben Sie sich anders …?»
«Na ja. Ich hatte mal ein Verhältnis mit einer jungen Politikerin. Der Klassiker. Die wollte sich hochschlafen. Okay. Sie hat ihren Posten in der Partei bekommen. Dann wurde sie ins Parlament gewählt. Kurz darauf hat sie mich fallen gelassen. Diese Schlampe. Ist nicht mehr wert als eine billige Hure, oder?»
«Was ist denn eine billige Hure?»
«Hören Sie doch auf mit diesem Gelaber. Eine Hure ist eine Hure. Sex gegen Geld. Oder Sex gegen Macht. Wo ist da der Unterschied?» Schweigen.
«Wollen Sie mehr erzählen?»
«Danach habe ich eine andere Parlamentarierin gefickt. Die sah zwar Scheisse aus, war aber eine Granate. Die konnte ich … meine Güte … die hat alles mit sich machen lassen, verstehen Sie?»
«Ich glaube, ich verstehe. Aber was hat das mit Ihrer aktuellen Befindlichkeit zu tun?»
«Mit meiner aktuellen Befindlichkeit?»
«Ja.»
«Es fühlt sich so an.» Schweigen.
«Als sie im Bundesrat sassen, als Sie Minister waren, einer der mächtigsten Männer der Schweiz, was haben Sie da Frauen gegenüber empfunden?»
«Ach, was soll’s? Da hatte ich alle möglichen Weiber. Die haben sich mir regelrecht an die Brust geworfen!»
Schweigen. Dr. Christiane Schwertfeger machte sich einige Notizen.
«Wollen Sie mir erzählen, was Sie in den letzten Tagen oder Wochen beschäftigt hat? Etwas, das sich so anfühlt, als wenn sie eine …» Dr. Schwertfeger zögerte.
«Wie wenn ich eine billige Hure gefickt hätte? Wollen Sie das sagen? Kennen Sie überhaupt diese ordinären Ausdrücke? Haben Sie sie schon je verwendet? Haben Sie nie das Bedürfnis, einfach gefickt zu werden?»
«Es geht nicht um mich.»
«Aha.» Schweigen. «Ich habe Macht ausgeübt», sagte Kilian Derungs nach einer Weile. «Und das fühlte sich so an, wie wenn ich …»
«Danke.»
«Sie haben wohl auch ein Problem. Ein sexuelles, was?»
«Noch einmal, Herr Derungs, es geht nicht um mich. Und ich möchte dies nicht noch einmal sagen. Sie sind zu mir gekommen. Sie können die Therapie jederzeit abbrechen. Es hindert Sie niemand daran.» Schweigen.
«Sie haben also Macht ausgeübt.»
«Ja.»
«Das fühlte sich gut an.»
«Ja. Auch wenn Sie es nicht glauben. Als Bundesrat hat man Macht. Das hat mir gefallen. Dann wollte die Partei, dass ich zurücktrete, Platz mache für eine Frau. Können Sie sich das vorstellen? Diese dumme Fotze wurde sogar gewählt. Man hat mir versprochen, dass ich eine wichtige Funktion in der Partei behalten und die Fotze nach meinem Gutdünken lenken könne. Ich habe den Dreck sogar geglaubt. Aber wissen Sie, wer in der Partei das Sagen hat? Können Sie sich das vorstellen?»
«Sagen Sie es mir?»
«Ja. Die, die Geld haben. Nicht so wie ich, zwei, drei Millionen Franken, nein, nein, nein. Milliarden, meine liebe Frau Doktor, wir reden hier von Milliarden!» Kilian Derungs war aufgeregt. Er wusste, dass er sich irgendwie beruhigen musste. «Haben Sie einen Cognac?»
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