Jünger war er da gewesen, aber schon damals kannte keiner die Grenze so gut wie er. Das wussten die von der Partei natürlich auch, und Konspiratives war beim Heimer immer gut aufgehoben. Jedenfalls rund um die Eiserne Hand.
Bei der Grenzwache hatten sie des Öfteren Leute eingesetzt, die das Gebiet nicht wirklich kannten. Da hatten sie einen besonders Eifrigen aus Steinen dabei, der seit der Euphorie der Machtübernahme der Braunen, alles was links war, persönlich bekämpfen wollte. Weil er bei einer Wirtshausrangelei einmal Prügel bezogen hatte. Das war vor dreiunddreissig gewesen, und er war damals mit seinen politischen Ansichten an die Falschen geraten.
Der hatte nun herausbekommen, dass da über die Eiserne Hand etwas laufen solle, und spitzelte hinter zweien mit linken Flugblättern her, wobei er sich durchaus zutraute, die beiden zu stellen und an einschlägiger Stelle vorzuführen. Da er die Lorbeeren für sich allein einschieben wollte, verzichtete er auf jede Mithilfe. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich bald herausstellte.
Denn die Eiserne Hand ist ein eigenwilliger Wurmfortsatz. Schnell ist man auf Schweizer Boden, ebenso schnell ist man wieder draussen aus der Schweiz. Es gibt ungezählte Grenzsteine, über die man stolpern kann, ohne wirklich mitzubekommen, wo man eigentlich ist. Besonders wenn das Auge zwei abtrünnige und hinterhältige Spione, Agenten und Feinde des Reichs verfolgt. Dabei nicht wahrnimmt, dass man selbst ins Visier derer gekommen war, die man gerade noch verfolgt hatte. Weil man nicht gemerkt hatte, dass man das Reichsgebiet verlassen hatte, weil man ohnehin nicht verstehen kann, dass ein derartiger Zipfel nicht Teil des grossen und mächtigen Reiches sein sollte, Basel hin oder her.
So gab es nach der Prügelei im «Hirschen» zu Steinen einen weiteren unsanften Hieb über den Schädel des Hilfsgrenzangestellten. Mitten in der Eisernen Hand. Und wieder waren diese Linken Urheber des Anschlags. Dass die dabei noch die Unterstützung zweier im Gebüsch versteckter Schweizer Genossen hatten, machte die Sache für den Hilfsgrenzwächter nicht einfacher. Er wurde hinunter zum Zollhaus an der Strasse nach Riehen geschleppt und den Schweizer Grenzbeamten ausgeliefert. Dort wollte man die Angelegenheit nicht unbedingt an die grosse Glocke hängen, und so liess man ihn wieder laufen. Aber seiner Bitte, nicht Meldung zu machen, konnte aus staatsrechtlichen und territorialen Gründen einfach nicht entsprochen werden.
Es gab einen mittleren Skandal mit einer beachtlichen Presseschlacht auf beiden Seiten, und das Ganze wurde richtig öffentlich. Es hätte für eine Provinzposse getaugt, aber Grenze war Grenze!
Es dauerte nicht lange, bis der Verdacht aufkam, dass der Heimer hinter der Aktion stecke, weil der sich schon immer mehr als gut mit einigen Riehenern, auch manchem Grenzbeamten und denen von der Gendarmerie verstanden hatte. Wenig an dieser Grenze blieb letztendlich wirklich geheim, was nicht bedeutete, dass es jedem bekannt wurde.
Da aber auch die Braunen unter den Eidgenossen einige Sympathisanten mit allerlei Beziehungen hatten, sickerte durch, dass dies ganz nach heimerscher Handschrift schmecke. Nur der sei dreist genug, Schweizer Hoheitsgebiet für seine vielfältigen, meist illegalen Geschäfte zu nutzen und gleichzeitig die Hilfe Schweizer Behörden in Anspruch zu nehmen, um seinen Widersachern im Reich, wer immer das sein mochte, eins auszuwischen.
Klar, dass man später dem Steinener ordentlich zusetzte, weniger wegen der Grenzverletzung, eher weil er blöd genug gewesen war, sich so stümperhaft überrumpeln zu lassen.
Das dem Heimer eines Tages heimzuzahlen, hatte der sich geschworen.
Inzwischen hatte der Hilfsgrenzpolizist von einst eine nicht ganz unwichtige Stelle beim Sicherheitsdienst in Lörrach inne, und auch seine grenzüberschreitenden Verbindungen mussten als gut bezeichnet werden.
Der Alte war sich zwar sicher, dass die Herren sämtlicher einschlägiger Abteilungen von Lörrach bis Freiburg und weiter bis Berlin Agenten wie ihn immer wieder brauchen würden. Da gab es ein paar Kleinigkeiten, die nur mit ortsansässiger Hilfe einigermassen reibungslos abliefen, so wie sie in der Vorstellung des Sicherheitsdiensts, dem Zollamt in Lörrach oder dem militärischen Abwehrdienst laufen sollten.
Er wusste aber, dass man seine Karten nicht überreizen dürfte. Bis zum Ende der Dreissiger Jahre hatten sie noch Juden über die Grenze gebracht. Dies geschah durchaus mit Wissen und Genehmigung der Nazibürokraten. Juden wollte man ja los werden. Da man ihnen alles abgenommen hatte, Geld, Pässe und sämtliche Wertsachen, musste wenigstens der Weg der richtige sein. Auch danach gab es noch Möglichkeiten, jüdische Flüchtlinge in die Schweiz zu bringen, und auch dabei hatte der Heimer seine Hände im Spiel gehabt. Ihm war letztlich nur übrig geblieben, mit allen Seiten zusammenzuarbeiten. Die Grenze war sein Geschäft. Immer gewesen, auch wenn es nicht immer das gleiche Geschäft war. Wenn man ein Häuschen im Niemandsland hat, und sei es noch so schäbig, dann ist die Grenze das Geschäft.
*
Niemandsland, das war das Land, das sich über ein paar hundert Meter zwischen dem Grenzbalken an der Strasse und dem Zollhaus in der Kurve im unteren Dorf erstreckte. Dieses Zollhaus war ein ansehnliches altes Fachwerkhaus, das man nicht unmittelbar an die Grenze hatte bauen können, weil dort eine Engstelle war und der Platz nicht gereicht hatte.
Viel gab es da nicht auf diesen paar Metern in diesem kleinen engen Tal. Ein unscheinbarer Bach und das kleine Haus unweit der eigentlichen Grenze, das da eher versehentlich stand. Die Heimers wohnten seit Generationen in diesem Schattenloch. Etwas oberhalb führte die Strasse vorbei, direkt in die Schweiz.
Patrouilliert wurde an der Grenze immer und geschmuggelt natürlich auch, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Reich werden konnte man dabei eigentlich nie, aber es half gelegentlich zu überleben.
Wer immer im Niemandsland lebte, war zum Schmuggeln geschaffen und musste die Grenze kennen. Trotzdem wurden sie alle irgendwann einmal erwischt, auch der alte Heimer. Nachlässigkeit, Überheblichkeit oder Übermut waren die Ursachen, und beim Heimer konnte auch alles zusammenkommen.
Seit das geschehen war, hatten sie ihn in der Hand. Von da an musste er für sie arbeiten. Für die Braunen, die Hakenkreuzler, die ihn für einen konvertierten Kommunisten hielten. Einer, der das Lager gewechselt hatte, was schon immer wieder mal vorgekommen war. Man versprach sich von einer Zusammenarbeit mit ihm einiges, gerade weil seine Verbindungen vielfältig waren.
Die Möglichkeit, das rundweg abzulehnen, sah er nicht. Frau und Kinder mussten versorgt werden. «Die Grenze ernährt dich», hatte er schon immer gesagt. Aber seit sie diesen Stacheldrahtverhau gebaut hatten, war alles komplizierter geworden. Sie sassen ihm im Genick, und einträgliche Nebengeschäfte waren immer schwerer durchzuführen.
Letzte Woche war ich in einer der «K»-Kneippen. Wir haben drei mit «K»: die «Krone», den «Kranz» und den «Krug». Ich war im «Krug».
Immer auf der Suche nach der Herkunft der Socken, scheint es mir notwendig ins Innere des Dorfes zu blicken. Ist aber nicht so einfach.
Zuhören beim Stammtisch. Ergiebige Quelle, oft jedenfalls.
Sie haben wieder von den alten Zeiten erzählt. Das fängt dann immer mit «Beim Adolf» an. Diesmal hatten sie es von einem, der immer mit zwei Krücken durchs Dorf gelaufen war. Muss eine Folge des Ersten Weltkriegs gewesen sein. Vielleicht deshalb war das einer, der nicht mitmachen wollte bei den Nazis.
Es war herausgekommen, dass er den Volksempfänger regelmässig auf Schweizer Sender eingestellt hatte. War ja Feindsender. Irgendwie waren die Schweizer ja Feinde, neutral auch, ja – und gelegentlich sogar Verwandte, aber eben nicht dabei, damals. Trugen die falschen Uniformen. Nach dem Krieg war dann sowieso alles ungerecht, und natürlich sind die Falschen davongekommen. Dieses eher pauschale Urteil musste als Zusammenfassung genügen, um den aktuellen politischen Zustand des Landes insgesamt klarzumachen.
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