Der Winter geht vorüber, und nicht jedes Jahr wird so kalt werden wie das letzte. Sie erinnerte sich, dass da Rekordtemperaturen erreicht wurden, die Schmerzen höllisch gewesen waren und dass es weit bis ins Frühjahr gedauert hatte, bis es wieder besser geworden war.
Jetzt musste sie sich erst einmal kurz setzen, weil sie das Gefühl hatte, ein wenig die Orientierung verloren zu haben.
«Immer den Grenzsteinen nach», hatte der Junge in seinem genuschelten Alemannisch, das sie kaum verstehen konnte, gesagt. Bis man zu einem Stein mit der Aufschrift «1700» kam. Dort würde ein schmaler Pfad abgehen, dem sie nicht weiterzufolgen brauche, weil der Bote von dort kommen würde.
So war das ausgemacht, weil, so hatte man ihr gesagt, dort rechnete man nicht mit Derartigem. Die Ecke war nicht wirklich geschickt für Konspiratives. Da hätte es bessere Möglichkeiten gegeben. Kürzere Wege hinein in die Schweiz. Genau deswegen war das der richtige Ort.
Grenzstein 81.
Aber sie selber wollte nicht in die Schweiz. Was sollte sie da? Sie kannte niemanden dort. In ganz Basel nicht und auch sonst nirgendwo. Obwohl, einfach weg und abhauen, hätte auch etwas Verlockendes gehabt. Alles zurücklassen. Möglich dass dann auch die Schmerzen verschwinden würden.
Grenzstein 82.
Geht aber nicht. Nichts geht mehr.
Der Weg ist steil. Davon haben sie nichts gesagt. Der Junge war sowieso unklar in seinen Angaben. Warum nur war der Alte nicht mitgekommen? Der Kerl war zwar ein unausstehlicher Brummbär, aber sicher einer, der hier alle Wege kannte. Warum nur hatte er sie diesem Jungen überlassen?
Grenzstein 83.
Einen Grenzstein nach dem anderen passierte sie, immer den schmalen steilen Weg entlang. Sollte das jetzt bis 1700 so weitergehen? Langsam wurde ihr klar, dass da etwas nicht stimmte. Auf den Steinen stand noch mehr. Verwittert teilweise und kaum mehr zu entziffern.
Sie setzte sich jetzt einfach neben einen Stein und wartete, bis ihr Blick wieder ganz ungetrübt war. Zur Schweizer Seite hin war ein Wappen zu erkennen. Ein anderes auf der gegenüberliegenden Seite. Einmal war das der Basler Stab. Den kannte sie. Mit dem anderen Wappen konnte sie nichts anfangen. Dann war da noch eine Jahreszahl angedeutet, die schwer zu entziffern war. Vielleicht 1840. Oder 1848.
Ihr war schwindlig geworden, und sie musste sich ein wenig am Stein festhalten. Warum musste auch ausgerechnet jetzt dieser Anfall kommen. So lange hatte sie nichts mehr davon gemerkt. Sie versuchte, ganz ruhig zu atmen.
Man hatte ihr gesagt, dass die Sache gut vorbereitet sei, dass sie sich keine Gedanken machen müsse. «Das ist alles im Vorfeld geklärt, Vreneli», hatte es geheissen.
Wenn der Vorsitzende etwas erklärte, war immer alles leicht. Überall hatten sie ihre Leute, und wenn sie kam, musste nur noch ausgeführt werden. Einer wird da sein, er wird dich finden. Ihr tauscht die Papiere aus. Und dann gehst du wieder zurück. Schon welche Papiere das waren, wusste sie nicht, das wusste sie nie.
Neben den Wappen hatten die Steine auch noch fortlaufende Nummern und gelegentlich Jahreszahlen.
Sie war den Nummern gefolgt. So hatte sie den Jungen verstanden. Immer den Berg hinauf. Sie wusste, dass oben ein Kloster war, und war in diese Richtung gelaufen, als hätte sie gespürt, dass sich dort sicheres Terrain befand. Vielleicht sogar Freiheit. Nur war sie kein Flüchtling, die Freiheit lockte sie nicht. Sie hatte nur etwas auszutauschen. Etwas abzugeben, etwas mitzunehmen.
Jetzt, das spürte sie, war sie auf dem falschen Weg. Die Jahreszahlen auf den Grenzsteinen hatten nicht die Logik fortlaufender Nummern. Die Jahreszahlen zeigten nur, dass in historisch relevanten Abständen neue Grenzsteine gesetzt worden waren.
1889, 1905, 1929 und dann wieder 1880 und 1898. Was immer geschehen war, auf den Verlauf dieser Grenze war wohl mit äusserster Akribie geachtet worden, so dass man immer von einem Stein zum nächsten blicken konnte. Offensichtlich sollte man hier die Grenze nie aus den Augen verlieren.
Ein 1700-er aber war nicht dabei. So alt schien auf dieser Seite keiner zu sein.
Was hatte der Junge noch gesagt? Dass sie nach links solle, den Berg hinauf, dann nach rechts. Wo nach rechts? Dann Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wie genau der Stein aussah, wusste er nicht. «Wie alle anderen», sagte er immer wieder. Aber irgendetwas von 50 oder 52 hatte er auch gesagt, und das konnte eigentlich nur eines bedeuten. Wenn damit die Nummer des Steins gemeint war, musste sie zurück. Steine mit kleineren Nummern konnten nur auf dem Berg gegenüber liegen.
Ihr war klar, dass ihr nun die Zeit fehlte. Eine Stunde hatte es geheissen, mehr Sicherheit gab es nicht. Der Junge würde nicht mehr da sein. Das hatte er klar gesagt. Eine Stunde würde er warten, jede Minute würde er auf seine goldene Uhr schauen.
Sie hätte sich besser erkundigen sollen. Das rächte sich jetzt, dass sie das nicht getan hatte.
Immer wieder quälte sie dieses Hämmern im Kopf, das zunahm in dem Masse, wie der kalte Wind das kleine Tal hinaufblies und immer dickere Nebelschwaden aus dem Rheintal mitbrachte, und langsam spürte sie, wie die Gegend um sie herum immer unwirklicher wurde. Das was hier nördlich des Rheins und jenseits von Grossbasel zur Schweiz gehörte bis hinauf zu diesem Zipfel, den man die Eiserne Hand nannte, das alles war ein eigentümliches Terrain.
*
Jean hatte andere Wege finden müssen um sich mit den Genossen aus Weil und Lörrach in Verbindung zu setzen und Kontakte herzustellen, seit sie die Eisenbahnlinie zwischen Weil und St. Louis eingestellt und dann auch noch die Schiffsbrücke von Huningue aus über den Rhein gekappt hatten. Aber Jean wäre nicht Jean gewesen, wenn ihm das nicht gelungen wäre. Was nicht bedeutete, dass es einfach war. Aber einfach war ohnehin schon lange nichts mehr.
Dennoch war es ihm an diesem Vormittag einmal mehr gelungen die Grenze in die Schweiz zu passieren, den Rhein in Basel zu überqueren und recht unbeachtet im Grenzbereich der Eisernen Hand zu verschwinden.
Das alte Fahrrad führte er an der Hand, wenn es durch die engeren Gassen Basels ging oder durch unwegsames Gelände, meistens aber sass er auf seinem Drahtesel und fuhr zügig an allen, die ihm begegneten vorbei.
Nur wenn man etwas genauer hinsah, hätte auffallen können, dass die Reifen des Fahrrads eine Idee zu breit waren und der Rahmen eigenartige Nahtstellen aufwies.
Niemand schaute so genau hin. Die Menschen hatten andere Sorgen.
Aufgehalten wurde er selten, und selbstredend war er auf so einen Fall vorbereitet. Seine Geschichten waren stimmig, und die legendäre Ruhe, die er ausstrahlte, überzeugte nicht nur Basler Grenz- oder Zollbeamte. Wenn er auch sehr darauf achtete, nicht unbedingt den germanisierenden Beamten des Reichs in die Hände zu fallen.
An diesem Tag war es auffällig still im Grenzbereich. Wirklich gewundert hatte er sich nicht darüber. Man hatte schon angedeutet, dass er mit nur wenig Grenzverkehr zu rechnen habe, was ihn noch ruhiger hatte erscheinen lassen. Obwohl diese zur Schau gestellte Gelassenheit gelegentlich an Leichtsinn grenzte, war er auch diesmal wieder gut damit gefahren.
Grundsätzlich war es ihm gleichgültig, ob das Elsass, vormals Alsace, nun von Paris oder von Berlin aus regiert wurde, weil er beides gleichermassen verabscheute und er, wie viele in dieser Region, sowieso nur eine Regierung in Strassbourg, nunmehr Strassburg, akzeptiert hätte.
Es hatte aber nicht lange gedauert, und Jean, der sich jetzt Hans nennen musste, nur der Nachnahme konnte bleiben, war klar geworden, dass es da schon Unterschiede gab. Spätestens als einige der Genossen in Natzwiller verschwunden waren und einige der alten Gefährten eine engere Bindung an Berlin für nicht mehr so abwegig hielten.
Da hatte er sich verstärkt an der illegalen Parteiarbeit beteiligt und war mit seinem etwas modifizierten Fahrrad des Öfteren zwischen der Schweiz und Frankreich hin- und hergependelt.
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