Die Fermentation von Gemüse ist, bis auf Sauerkraut, weitgehend außer Mode gekommen, erfährt aber gerade eine kleine Renaissance durch den asiatischen vergorenen Kohl Kimchi – zu Recht, denn neben dem traditionellen Aspekt der Haltbarmachung von Gemüse birgt sie großes aromatisches Potenzial. Im Unterschied zum „Einlegen“ oder „Pickeln“ wird das Gemüse bei der Fermentation nicht durch den hinzugefügten Gärsud aromatisiert, sondern es entstehen ganz neue Aromen. Typische Wege der Aromabildung aus Zuckern der Gemüse laufen über mehrstufige Prozesse ab. Reduzierende Zucker werden zu Derivaten der Benztraubensäure (Pyruvate) umgebaut, die wiederum Vorstufen der Aromaverbindungen sind. Meist entstehen butterige Aromaverbindungen wie 2,3 BUTANDIOL mit fruchtigem, cremigem Duft und leicht stechende fruchtige, süßliche Gerüche über BUTYLACETAT, die auch in unvergorenem Gemüse, wie Brotfrucht, Grünkohl, Löwenzahn, Melone, Pepino oder Senfkohl zu finden sind.
Neben Sauerkraut und Kimchi (
Weißkohlund Chinakohl) ist Joghurt das Standardbeispiel für die Milchsäuregärung. Dabei entstehen typische Aromen aus den Gruppen 1 (Aliphatische Kohlenwasserstoffe und Fruchtester), 2 (Schwefel- und Stickstoffverbindungen), 6 (Aromaten) und 8 (Heterocyclen). Diese Gäraromatik führt zu ganz neuen Ideen: Warum nicht einmal Gemüse mit Milch zu einem Gemüsejoghurt vergären? Dazu werden feste und zuckerreiche Wurzelgemüse wie Pastinaken, Karotten oder Sellerie vorgegart (z. B. sous-vide bei 90 °C für zwei bis drei Stunden gedämpft), bis sie weich sind und leicht püriert werden können. Dieses sehr feine Gemüsepüree kann kalt mit frischer (Roh-)Milch (3,5%) versetzt werden (oder, falls gewünscht, noch mit Sahne und Crème fraîche „angefettet“). Unter Zugabe von Joghurt startet die Fermentation, die Milch koaguliert, gleichzeitig werden durch die Zunahme der Milchsäurebakterienkonzentration Stärke und Zucker umgebaut. Die Resultate bestechen durch ein Gemüse-Joghurt -Aroma, das nicht mit der Vermischung von Gemüsepüree und Joghurt vergleichbar ist. Derart fermentierte Gemüsejoghurts eignen sich gut als herzhafte Tellerelemente oder für raffinierte Komponenten in Desserts.
Der universelle Grundprozess jeder Fermentation (grau unterlegt): Egal, wo die Zucker herkommen, es entsteht immer ein Zwischenprodukt „Pyruvat“, aus dem Aroma (und Geschmack) hervorgeht.
Als weiteres Experiment für Fortgeschrittene und experimentierfreudige Gemüse-Aficionados sei ein „Kartoffelmiso“ empfohlen. Dazu werden gedämpfte Kartoffeln grob zerdrückt, mit 2 bis 4 Gewichtsprozent gesalzen, mit dem japanischen Koji-Reis geimpft und an einem warmen Ort sich selbst überlassen. Nach und nach beginnen die Proteasen, Amylasen und Lipasen die Proteine, Stärke und Fette zu spalten. Es entstehen neue Aromastoffe und Geschmacksstoffe. Das Miso wird im Laufe der Zeit immer dunkler, da sich enzymatisch Maillardprodukte bilden, die den dunklen Röststoffen sehr ähnlich und teilweise sogar mit ihnen identisch sind. Der Geschmack wird immer ausgeprägter und entwickelt sich mehr und mehr in Richtung „umami“. Wird die Fermentation unter Luftabschluss geführt, kommt eine milchsaure Gärung hinzu, das „Miso“ wird sauer. Je nach Gärdauer lassen sich der Geschmack und die Aromen verfolgen. Das so hergestellte Miso lässt sich vielfältig einsetzen, sei es als Tellerelement oder als Würzmittel; selbst als „Senfersatz“ leistet es hervorragende Dienste. Dieses Experiment ist angewandte Küchenforschung, die sich auf jeden Fall lohnt. Und wer dabei auf die Idee kommt, dasselbe mit gedämpften Perlgraupen durchzuführen, hat die Methode sehr gut verstanden.
„UNECHTE“ MILCHSÄUREGÄRUNG: Pickling und saures Einlegen von Gemüse unterscheidet sich grundlegend vom Fermentieren, denn hier werden Säure, Aroma und Geschmack durch die Gärsuds herangetragen. Legt man aber Gemüse statt in Essig- oder Zitronensaft in Milchsäure ein (z. B. mit Molke), bringt diese über ihren Ursprung der Gärung eigene „fermentierte“ Noten ins Spiel, ohne dass fermentiert werden muss. Das Einlegen in Molke eignet sich für süßlich wirkende Gemüse, wie Pastinaken, Silberzwiebeln, Karotten oder Rote Bete.
FOOD-PAIRING UND FOOD-COMPLETING
Gemüse bieten, wie sich gezeigt hat, eine Fülle von Aroma- und Geschmacksstoffen, seien es nun „natürliche“ der frisch geernteten Gemüse oder durch Garung oder Gärung in der Küche erzeugte. Die hohe Kunst der Gemüseküche besteht nun – neben all den Möglichkeiten der Zubereitung mit alten oder neuen Techniken – in der Kombination. Was passt wozu? Welche Gemüse harmonieren, welche ergänzen sich reizvoll? Aber auch: Zusammen mit welchen anderen Lebensmitteln und Gewürzen kommen die kulinarischen Vorzüge eines bestimmten Gemüses besonders gut zur Geltung, oder umgekehrt: Welches Gemüse kann ein Gericht effektvoll bereichern?
Das sogenannte Food-Pairing, oft fälschlicherweise auch als Flavour-Pairing bezeichnet, geht von der naheliegenden Idee aus, „Gleiches mit Gleichem” zu paaren, sodass es zwischen den Lebensmitteln überlappende Bereiche gibt: dasselbe Molekül in zwei Zutaten oder zwei Düfte, die zumindest der gleichen Gruppe zugeteilt sind. Der gemeinsame Nenner wird verstärkt, die Zutaten harmonieren miteinander.
Bezogen auf das Farbschema dieses Buches bedeutet das: Wenn bei zwei verschiedenen Gewürzen im Lexikonteil (
ab Seite 117 GEMÜSE A BIS Z „Gemüse ist das neue Fleisch“, heißt es nicht nur unter Vegetariern. Längst ist Gemüse aus dem kulinarischen Dornröschenschlaf erwacht. Alte und neue Karottensorten, wiederentdeckte Rüben oder Kreuzungen aus verschiedenen Kohlarten werden in der gehobenen Gastronomie gefeiert, von (Hobby-)Gärtnern angebaut und finden sich im Gemüseregal der Supermärkte oder auf Märkten. Und Gärtnereien bieten immer mehr „exotische“ Sorten an: als zarte Pflänzchen für den Eigenanbau oder ausgereift zum Sofortverzehr. Unser Ziel ist es, diese wunderbare Vielfalt darzustellen – vom Wurzel- bis zum Fruchtgemüse, vom Allerweltsweißkohl bis zur Lotoswurzel. Auf den folgenden Seiten präsentieren wir in alphabetischer Reihenfolge 67 Gemüsearten. Wir geben Hinweise zur Geschichte und Botanik, Tipps zum Anbau im eigenen Garten oder zum Einkauf und stellen die wichtigsten Sorten vor. Vor allem aber geht es uns um die kulinarische Verwendung: Ausgehend von einer chemischen Aromaanalyse zeigen wir, wie sich das jeweilige Gemüse am besten zubereiten und kombinieren lässt, von ganz klassisch bis hin zu „Crossover“-Experimenten. Das Farbleitsystem zu Geschmack und Aroma soll dabei eine optische Hilfestellung geben, und unsere Rezepte (immer für 4 Personen) können erste Ideen liefern. Aber Ihrer Experimentierfreude wollen wir dabei nicht vorgreifen – im Gegenteil!
) jeweils dieselbe Farbe aktiv ist, dann steckt in beiden ein sehr ähnlicher Duft – vielleicht sogar dasselbe Molekül. In der Kombination wird das typische Aroma dieser Gruppe verstärkt. Für das Aroma-Pairing ist also nicht nur das einzelne Molekül entscheidend, sondern die Molekülgruppe, da Flüchtigkeit und physikalische Eigenschaften sehr ähnlich sind. Auch die Herkunft der Aromen (Fett, Aminosäuren, Phenole, Farbstoffe, Abwehr …) ist ein wichtiger Gesichtspunkt, da sich diese in bestimmten Gruppenzugehörigkeiten niederschlägt.
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