»Wann?«, hatte sie herausgepresst.
»Das kann man nie genau sagen. In ein paar Wochen oder Monaten. Hoffen wir, dass es schnell geht.«
Jule war aufgesprungen und in ihr Zimmer gelaufen, wo sie hemmungslos weinte. Wie konnte er nur so etwas sagen? Oma ist doch seine Mutter.
Ganz selbstverständlich ist sie davon ausgegangen, dass die beiden sich jetzt versöhnen würden.
Ruben Fux und seine Mutter sprechen schon seit Jahren nicht miteinander. Jule weiß nicht genau, weshalb, nur, dass es um Geld geht. Sie hat versucht, ihre Mutter auszufragen, in einem der seltenen Momente, wo die nüchtern war, aber sie hatte nur gleichgültig mit den Schultern gezuckt. »Keine Ahnung, ist auch egal. Sind eben Sturköpfe.«
»Aber wenn sie jetzt stirbt, ohne, dass ihr euch vertragen habt – das geht doch nicht!« Jule war entsetzt. »Und nur wegen Scheißgeld?«, hatte sie ihn angeschrien.
»Nein, es geht gar nicht um Geld – nicht nur, nicht hauptsächlich«, hatte ihr Vater sich verteidigt. »Sie hat deine Mutter beleidigt, das kann ich doch nicht akzeptieren. Sie hat Mama nie gemocht. Aber ich halte eben zu meiner Frau, der Mutter meiner Tochter!«
Natürlich nahm Jule ihm sein pathetisches Getue nicht ab, sie hat ihn längst durchschaut. Außerdem behandelt er seine Frau auch alles andere als respektvoll.
Jule ist wütend auf ihren Vater. Wie kann der nur so herzlos sein! Oder ist er nur gedankenlos, ahnt er gar nicht, wie weh er seiner Mutter tut?
Sie mustert die alte Frau möglichst unauffällig von der Seite. Ist sie kleiner geworden in den letzten Monaten? Ihre Kleidung sieht aus, als würde sie jemand anderem gehören, einer Frau, die größer und kräftiger ist. Die dürren Hände, die aus viel zu weiten Ärmeln ragen, zittern unkontrolliert.
Susanne Fux schmerzt es, zu sehen, wie ihre Enkelin sich bemüht, sie aufzumuntern. Sie hört die unterdrückten Tränen in der künstlich fröhlichen Stimme. Natürlich weiß Jule es längst. Und warum soll man ihr auch etwas vormachen? Sie wird es ja doch erfahren, das lässt sich nicht vermeiden. Und sie muss mit dem Mädchen reden. Will alles regeln, bevor es zu spät ist.
»Hör mal, Jule, es ist gar nicht so schlimm. Ich bin alt und müde, ich möchte endlich einschlafen. Ich habe auch keine Angst davor. Nur, dass ich für dich nicht mehr da sein kann, das tut mir leid.«
Sie nimmt ihre Enkelin in den Arm. »Ja, weine ruhig, meine Kleine. Du musst dich nicht verstellen. Du weißt doch, mir kannst du alles erzählen.«
Es gelingt ihr nach einer Weile, das Mädchen zu beruhigen. Beide sind erleichtert, sich nichts mehr vormachen zu müssen. Sie sprechen über den Tod, dann über ihre gemeinsame Zeit, über Jules Kindheit.
Simone Keller, die Pflegerin, kommt zwischendurch auf den Balkon, sie bringt den beiden etwas zu trinken und der alten Frau ihre Schmerztabletten und eine Decke. Aber sie drängt Jule nicht zum Gehen.
Es wird schon langsam dunkel, die Laternen auf der Promenade gehen an und sie reden immer noch. Es gibt etwas Wichtiges, das Susanne regeln muss, solange sie es noch kann.
»Jule, du weißt, was ich von deiner Mutter halte. Sie war nie eine gute Mutter und auch keine gute Ehefrau. Ruben hätte etwas Besseres verdient. Er ist so talentiert, so geschäftstüchtig. Du weißt, dass er immer wieder einen Weg gefunden hat, sich etwas aufzubauen. Was hätte aus ihm werden können, mit der richtigen Frau? Aber Ulrike hat ihn immer wieder runtergezogen. Mit ihrer Sauferei hat sie alles kaputt gemacht und sein Geld ausgegeben. Ich muss dir das leider so deutlich sagen. Aber du weißt es ja selbst.« Sie blickt das Mädchen etwas streng an, sie will nicht, dass es ihre Mutter verteidigt, nicht jetzt. Ihre Lippen sind schmal, wie immer, wenn sie von ihrer Schwiegertochter spricht.
Jule nickt stumm. Was soll sie sagen? Es stimmt ja, dass ihre Mutter trinkt. Aber schon die Vierzehnjährige weiß, dass das keinen Einfluss auf die Geschäfte ihres Vaters hat. Der zieht sein Ding immer durch, Ulrike wäre wohl die Letzte, von der er sich beeinflussen ließe. Im Gegenteil. Jule denkt, dass ihre Mutter wohl nicht so viel trinken würde, wenn ihr Vater etwas netter zu ihr wäre. Nur, dass dem das völlig egal ist.
»Hör zu, Jule. Ich vertraue dir jetzt etwas an, was unbedingt unter uns bleiben muss. Eigentlich bist du noch zu jung, als dass ich mit dir darüber reden sollte, aber was bleibt mir übrig.«
Sie stöhnt leise, als sie sich in ihrem Sessel zurechtsetzt und zieht sich die Decke enger um die Schultern.
Jule hat Angst. Angst um ihre Oma, die jetzt so furchtbar alt und krank aussieht und Angst vor dem, was sie erfahren soll. Sie will nicht noch mehr Schlechtes über Ulrike hören, es ist doch ihre Mutter und sie liebt sie.
»Du weißt ja, dass ich das Haus verkauft habe.«
Das Mädchen nickt erleichtert. Ja, das weiß sie. Das Haus, in dem sie wohnt, hat früher der Familie gehört. Bevor Oma ins Pflegeheim gegangen ist, hat sie es verkauft und der neue Besitzer wohnt gar nicht darin, nicht einmal im Ort. Er wollte nur sein Geld anlegen und ein Haus in Bansin, nicht weit vom Strand entfernt, wird nicht an Wert verlieren. Er hat es gründlich restaurieren und modernisieren lassen, was auch bitter nötig war. Jetzt zahlt Familie Fux Miete, aber für eine schöne Wohnung mit neuen Fenstern und Fußböden und einer modernen Heizung.
Eigentlich ist es ja ein Geheimnis. Jule hat es erfahren, als sie zufällig ein Gespräch zwischen Ruben und seiner Mutter gehört hat. Sie hat versprochen, mit niemandem darüber zu reden. Das ist ihr nicht schwergefallen, sie kann gut Familiengeheimnisse für sich behalten.
»Weißt du, wenn das Geld auf mein Konto eingegangen wäre, hätte ich es für die Pflege hier ausgeben müssen. Dann wäre nichts mehr davon übrig.«
»Hast du es Papa gegeben?«
»Nein! Eben nicht! Deshalb ist er doch so sauer auf mich. Aber deine Mutter hätte es ihm sicher schon längst abgenommen und in Alkohol umgesetzt.«
Jule schluckt. So sehr sie ihre Oma liebt, sie hasst es, wenn sie so über ihre Mutter spricht.
»Ich habe das Geld gut versteckt. Aber nun muss ich damit etwas machen. Ich will, dass du es bekommst. Würde ich es dir jetzt geben, hätten natürlich deine Eltern einen Anspruch darauf, da du noch minderjährig bist. Das will ich auf keinen Fall. Daher habe ich mich dazu entschlossen, es für dich anzulegen. Du bekommst es, wenn du volljährig bist, also mit 18 Jahren.«
Sie sieht ihre Enkelin erwartungsvoll an. Die ist schockiert, sie weiß nicht, was sie sagen soll.
»Was – wie viel ist es denn?«, stottert sie schließlich.
»Sechshunderttausend Euro«, antwortet Susanne stolz. »Ich habe nichts davon ausgegeben. Es durfte ja niemand wissen, dass ich Geld habe. Und ich will, dass du es bekommst. Alles. Du hast es verdient.«
»Oma – ich – ich muss aufs Klo!«
Jule springt auf und läuft durch das dunkle Zimmer, die Treppe hinab nach draußen. Vor der Tür bleibt sie stehen und atmet tief durch.
Was soll sie denn jetzt machen? Sie will das Geld nicht! Es macht ihr Angst. Sie kann doch gar nichts damit anfangen. Und außerdem – ihr Vater braucht es dringend, das weiß sie. Gerade jetzt, er will doch ein neues Geschäft aufbauen. Auch wenn sie nicht genau weiß, was er vorhat.Dass er dringend versucht, Kapital aufzutreiben, das hat sie mitbekommen. Wenn Oma jetzt ihr das Geld gibt, wird er total sauer sein und nie wieder mit ihr sprechen. Und sie kann es ihm nicht geben, erst in vier Jahren, das ist eine Ewigkeit. Was kann sie nur tun?
Sie muss ihre Oma umstimmen. Die hält ihre Enkelin immer noch für das kleine ängstliche Mädchen, das sie nicht belügen kann. Aber Jule hat sich verändert. Sie ist es gewohnt, sich zu verstellen, allen etwas vorzumachen. Die Trunksucht ihrer Mutter zu vertuschen und die Geldsorgen der Familie. Eigentlich ist sie die Vernünftigste in der Familie, die alles regelt und zusammenhält. Und das muss sie auch jetzt. Sie weiß, was zu tun ist.
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