Bruno war früher Lehrer an der Bansiner Schule und erinnert sich noch gut an diese Zeit. Das hilft Berta oft, wenn sie einen seiner ehemaligen Schüler einschätzen will. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich der Charakter eines Menschen im Laufe seines Lebens gar nicht so sehr verändert. Die Älteren können ihre schlechten Eigenschaften nur besser verbergen. Manchmal. Und ganz selten, wenn Berta sie erst einmal genauer beobachtet – »auf dem Kieker hat«, wie Plötz es bezeichnet.
»Ich mag sie eigentlich beide«, gibt sie jetzt zu, »sie sind nur grundverschieden. Fux ist der Typ, der reinkommt und sagt: ›So, da bin ich‹ und Andreas ›Na, da seid ihr ja‹.«
»Genau«, bestätigt Bruno Bertas Beobachtung. »Und das ganz ohne Worte.«
Inzwischen ist die Gaststätte geschlossen, die Tische sind aufgeräumt und die Gläser gespült. Anne sitzt bei Berta und Bruno am Stammtisch. Sophie macht mit dem Kellner die Abrechnung, dann kommen die beiden auch dazu.
Thomas Haas arbeitet erst seit ein paar Tagen im Kehr wieder . Der 55-Jährige stammt aus Bansin, er hat hier auch seine Ausbildung zum Kellner absolviert, war aber in den letzten 20 Jahren überall auf der Welt unterwegs und nur selten zu Hause. Anne kennt ihn aus der Schulzeit, in der achten Klasse war sie schwer verliebt in den stillen, schüchternen Jungen. Sie fühlte sich gekränkt, weil er ihr geradezu ängstlich aus dem Weg ging. Vermutlich hat es ihm Angst gemacht, dass sie mindestens einen Kopf größer war als er und auch breitere Schultern hatte. Er stand schon immer auf die kleinen, zierlichen, hilfsbedürftigen Frauen.
Es war ein glücklicher Zufall, dass sie ihn im Januar auf der Straße erkannt und natürlich auch gleich angesprochen hat. Er hatte seine Eltern eigentlich nur über Weihnachten besuchen wollen, dann aber gemerkt, dass sie allein nur noch schwer zurechtkamen und beschlossen, zu bleiben.
»Ich bin es ihnen schuldig, weißt du?«, hatte er Anne anvertraut. »Sie waren die besten Eltern, die man sich wünschen kann, haben alles für mich gemacht. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe, um ein bisschen wiedergutzumachen.«
Anne fand das etwas pathetisch, schließlich sind Eltern dazu da, alles für ihre Kinder zu tun, im Allgemeinen, ohne Schuldgefühle zu erzeugen. Aber sie nickte, sie mochte Thomas immer noch und freute sich, dass er wieder da war. »Du bist doch Kellner«, fiel ihr ein. »Hast du schon einen Job?«
Sophie, die mit ihren jungen Kellnerinnen in den letzten Jahren nur Pech hatte, war erfreut über Annes Vermittlung. Der gut ausgebildete, ruhige, gepflegte Mann würde das Niveau ihres Restaurants erheblich steigern.
Durch den Lockdown im Frühjahr hat sich alles verzögert, er hat seine Probezeit am 1. Juni begonnen und Sophie ist fest entschlossen, ihn danach einzustellen und beim Gehalt nicht kleinlich zu sein, bevor er noch etwas Besseres findet. Kellner werden hier überall gesucht. Wie gut, dass Anne ihn sich gleich gekrallt hat.
»Hast du nicht auf der AIDA gearbeitet?«, fragt Berta. »Da hast du ja gerade rechtzeitig aufgehört.«
»Ja, stimmt. Aber ich wollte sowieso absteigen. Ich hatte eine Stelle in der Schweiz, in einem guten Hotel ganz oben in den Bergen. Dicht an der italienischen Grenze.«
»Was?« Berta ist entsetzt. »So weit weg?«
Thomas lacht. »Na, mit dem Schiff war ich noch deutlich weiter weg.«
»Ja, klar, aber auf dem Wasser. Das ist doch etwas ganz anderes. Wie kann sich ein Bansiner Junge in den Bergen wohlfühlen? Du hättest bestimmt furchtbares Heimweh bekommen.«
Er zuckt vage mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, hatte ich an Bansin nicht so gute Erinnerungen. Ich konnte gar nicht weit genug weg sein. Aber meine Eltern brauchen mich eben.« Er presst die Lippen zusammen und blickt finster in sein Bierglas. Dann sieht er seine Tischnachbarn an und lächelt. »Und – na ja, wie ich sehe, gibt es in Bansin auch sehr nette Menschen«, nimmt er seinen vorherigen Worten die Schärfe.
Berta fängt einen warnenden Blick von Bruno auf und verkneift sich die Fragen, die ihr auf der Zunge liegen. Da war doch was! Damals … Berta wird gründlich in ihren Erinnerungen kramen müssen. Paul Plötz kann ihr da sicher helfen. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie muss ihn nur auf die richtige Spur bringen.
Die deutsch-polnische Grenze ist wieder geöffnet und somit ist die Strandpromenade vom Hafen in Swinemünde bis an die Steilküste hinter Bansin ungehindert passierbar. Zwölf Kilometer kann man hier zwischen Dünen, gepflegten alten Villen und vielen Kiefern wandern. Oder mit dem Rad fahren. Immer parallel zum Strand. Die hinter Dünen und Bäumen verborgene Ostsee ist hier mitunter nur hörbar. Lediglich auf dem letzten Kilometer, auf der Bansiner Promenade, zwischen der Grenze zu Heringsdorf und dem Seesteg ist der Blick auf das Meer immer frei.
»Das ist die Besonderheit der Bansiner Strandpromenade«, erklärt Anne ihren Gästen bei der Ortsführung. »Hier können Sie immer auf die Ostsee sehen. Deshalb sind auch im Musikpavillon Fenster. Nicht nur, damit die Musiker ihre Noten besser lesen können. Der Gast kann über sie hinweg auf das Meer blicken.«
Erst am westlichen Ende der Promenade wird diese Sicht verhindert. Hier sieht der Gast nur eine Bretterwand, hinter der sich die Fischerhütten verbergen.
Die Eingänge der aneinander gebauten Buden befinden sich an der Rückseite, hinter den Dünen. Ein paar Boote sind zu sehen. Große Kutter mit Ruderhaus und breit gewölbtem Boden. Sie haben einen geringen Tiefgang. Die Fischer können damit weit hinaus auf die Ostsee fahren, bis nach Skandinavien, sie können aber auch durch das flache Küstenwasser auf den Strand gezogen werden. Es sind die letzten Strandfischer, die es hier auf Usedom gibt. Sie haben keinen Hafen, die Boote liegen an Land, in den Dünen. Es riecht nach Rauch, Fisch und Meer. Schmale Trampelpfade führen hindurch zum Strand, unten am Ufer sind die kleinen Boote befestigt.
Paul Plötz steht mit einigen Leuten neben dem Räucherofen. Es sind Einheimische, sie wollen frischen Fisch kaufen, warten darauf, dass der Räucherfisch aus dem Ofen genommen wird oder wollen einfach nur ein bisschen reden. Um den Fischverkauf kümmert sich Arno, für Letzteres ist Paul zuständig.
Ein Urlauberpärchen tritt hinzu, junge Leute, dem Dialekt nach aus Bayern oder jedenfalls aus dem Süden, neugierig, fasziniert und ein wenig herablassend. Für sie scheint das alles hier aus der Zeit gefallen zu sein, urig, aber primitiv. Vermutlich hat es hier schon vor hundert Jahren genauso ausgesehen. Die Fischer könnten ihnen erzählen, dass hier vor hundert Jahren weitaus mehr los war, aber das tun sie nicht. Was geht das fremde Leute an, die sich doch nur über sie lustig machen?
Ein alter Anker ist zwischen dem rauen Gras zu sehen, Netze und Steurer, lange Stangen mit roten Fähnchen, mit denen die Fischer die Lage ihrer Netze und Angeln anzeigen.
»Ich habe die Dinger schon auf dem Wasser gesehen«, fällt dem jungen Mann auf. »Warum sind an manchen Stangen schwarze Fähnchen? Hat das was zu bedeuten?«
Berta könnte es erklären, es sind die Aalschnüre, die damit gekennzeichnet werden. Aber das hier ist Pauls Bühne.
»Ja, das ist so« – mit diesem Satz fangen seine Geschichten immer an – »wo die schwarzen Fahnen zu sehen sind, war eine Seebestattung. Da haben wir eine Urne versenkt.«
Die junge Frau reißt erschrocken die Augen auf, der Mann zweifelt. »Was denn, so dicht am Ufer? Muss man dazu nicht weiter raus aufs Meer fahren? Da gibt es doch sicher Vorschriften?«
»Natürlich!«, bestätigt der Fischer. »Wir sind schließlich in Deutschland, da gibt es für alles Vorschriften. Nur interessiert uns das nicht. Wenn ein Bansiner stirbt, wird der direkt hier an der Küste beigesetzt. In Bansin, wie sich das gehört.«
Читать дальше