Oma weiß doch nur, was sie ihr erzählt. Wenn sie glaubt, dass zu Hause alles bestens ist, dass es ihrem Sohn und Jule gutgeht, wird sie auch glücklich sein. Das ist die Hauptsache. Dann regelt sich das mit dem Geld sicher von allein.
Als Jule zurückkommt, steht Simone bei ihrer Oma auf dem Balkon. »Ich dachte, du bist schon weg. Ich wollte deine Oma gerade hereinholen. Es ist doch ziemlich kühl inzwischen.«
»Ach, lassen Sie uns noch einen Moment hier sitzen. Mir ist gar nicht kalt. Und Julchen muss sowieso gleich nach Hause. Zehn Minuten noch?«
»Gut, dann mache ich schon mal ihr Bett fertig. Ich habe dann auch Feierabend. Also, bleiben sie nicht mehr so lange draußen. Gute Nacht, Frau Fux, bis morgen.«
Jule wartet ungeduldig, bis die Altenpflegerin den Balkon verlassen hat.
»Oma, ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, damit du dir keine Sorgen um Papa und mich machst. Aber jetzt muss ich es dir doch sagen. Du weißt ja gar nicht, wie es zu Hause ist, es hat sich alles verändert.
Mama trinkt gar nicht mehr. Sie ist sehr schwer krank, irgendwas mit der Leber. Papa muss sie pflegen, sie kann gar nicht mehr aufstehen. Bestimmt stirbt sie bald. Deshalb kann Papa dich auch nicht besuchen, weißt du. Er würde ja gern, aber der Arzt hat gesagt, hier kann man sich leicht mit Corona anstecken und das würde Mama nicht überleben. Er will das nicht riskieren. Aber er sagt, es ist wohl sowieso egal. Wir wollten dich nicht aufregen. Aber nun musste ich es dir doch sagen. Damit du Papa nicht dafür bestrafst, dass er nicht kommt. Er kann doch gar nichts dafür.«
Susanne versucht, im Gesicht des Mädchens zu lesen. Es sieht ehrlich aus. Traurig. Was muss dieses Kind nur alles mitmachen, in seinem jungen Alter. Sie zweifelt nicht an dem, was sie gehört hat. So etwas denkt ein Kind sich doch nicht aus.
»Das ist ja furchtbar. Und ich habe wirklich gedacht – weißt du, er hat gesagt, er will mich erst wieder sehen, wenn ich ihm das Geld gebe. Die würden es mir hier sowieso abnehmen. Als wenn ich blöd wäre.« Sie denkt nach. Sie hält ihren Sohn zwar für außerordentlich klug, kann aber doch nicht ignorieren, dass einige seiner genialen Geschäftsideen ziemlich in die Hose gegangen sind.
»Wozu braucht er denn so viel Geld? Weißt du was darüber?«
»Ja, er will eine ganz große Gaststätte bauen, mit Ferienwohnungen und so. Direkt am Strand. Da wo die Fischer sind. Die sollen alle weg.« Dieser Einfall ist Jule blitzartig gekommen. Sie weiß zwar nicht genau warum, aber ihre Oma mag die Fischer nicht. Sie isst keinen Fisch und sie ist genauso tierlieb wie Jule. Und sie mag die Robben.
»Aber dafür reicht mein Geld doch nicht. Dann muss er ja wieder einen teuren Kredit aufnehmen. Das ist schon einmal schiefgegangen.«
»Nein, Oma, er braucht gar keinen Kredit. Stell dir vor, der Vater von Mama ist gekommen. Weil sie doch so krank ist. Jetzt habe ich einen Opa. Der ist total lieb. Und er hat viel Geld. Er findet Papas Plan toll und will ihm helfen. Aber es wäre natürlich besser, wenn Papa selbst auch was hätte. Damit er nicht so abhängig ist, weißt du.«
O Gott! Einen Moment fürchtet das Mädchen, dass sie zu weit gegangen ist. Ihre Fantasie ist einfach mit ihr durchgegangen. Klingt das nicht alles zu dramatisch, zu erfunden? Fast wie in Omas Kitschromanen. Wenn ihre Oma den Mann nun kennenlernen möchte? Oder wenn sie Mama besuchen will?
Aber die alte Frau hat mit großen Augen zugehört und seufzt erleichtert. Sie glaubt, was sie gehört hat, weil sie es glauben will.
»Ja, das ist doch schön. Das heißt«, schränkt sie schnell ein, »das mit deiner Mutter ist natürlich furchtbar, es tut mir sehr leid. Aber sonst – da hat der Junge endlich wieder eine Aufgabe. Er hatte bisher einfach Pech, diesmal wird er zeigen, was er kann. Ich finde die Idee wunderbar. Natürlich helfe ich ihm auch. Wie ist er denn so, dein neuer Opa?«
Ist sie etwa eifersüchtig? »Ach ich weiß nicht. Ich hab noch nicht so viel mit ihm geredet. Er interessiert sich nicht sonderlich für mich. Er hat schon ein paar Enkelkinder.«
»Aha, na dann – ich muss darüber nachdenken, Julchen. Wäre es dir denn recht, wenn ich deinem Vater das Geld gäbe? Oder einen Teil davon?«
»Natürlich, Oma!« Jule fällt ein Stein vom Herzen. »Wir sind doch eine Familie. Papa gibt mir alles, was ich brauche.«
»Gut, meine Kleine. Ich denke noch einmal darüber nach. Aber jetzt muss ich mich hinlegen, ich bin völlig erschöpft.«
»Ich weiß gar nicht, warum der so eine schlechte Laune hat«, beschwert Berta sich bei Arno. »Ihr habt gut gefischt, das Wetter ist schön und die Leute sind nett zu euch. Aber Paul Plötz ist am Meckern.«
»Na ja, nicht alle sind nett«, schränkt der ein. Er blickt an seinem Räucherofen, den er gerade bestückt, vorbei zur anderen Seite der Langbude. Dort unterhält sich Ruben Fux mit zwei Fischern. Sein Lachen dringt bis zu ihnen herüber.
»Nimm dir ein Beispiel an dem«, provoziert Berta ihren alten Freund. »Dem geht es doch viel schlechter als dir. Soweit ich weiß, läuft seine Agentur beschissen, es kommen keine Reisegruppen, hat Anne gesagt. Er hat zwar die Ferienwohnungen gut vermietet, aber die Verluste vom Frühjahr holt er doch nicht wieder rein. Seine Mutter ist schwer krank und seine Frau – na, ihr wisst ja.« ›Und seine Tochter klaut‹, fügt sie in Gedanken hinzu.
Paul lacht etwas hämisch, während er Ruben entgegenblickt. »Ja«, sagt er laut, »der wollte immer eine Frau, die kocht wie seine Mutter, jetzt hat er eine, die säuft wie sein Vater.«
Ruben Fux lässt sich nicht anmerken, ob er die Bemerkung gehört hat. Er grüßt freundlich und bietet Paul eine Zigarette an. Der lehnt ab. »Hat mir der Arzt verboten«, behauptet er.
»Ach was, es gibt viel mehr alte Raucher als alte Ärzte.« Er steckt sich selbst eine an, sieht nachdenklich dem Rauch hinterher. »Du bist doch nicht krank, oder? Nee, Paul, du wirst noch hundert Jahre alt. Bei deinem Lebenswandel – immer an der frischen Seeluft, immer in Bewegung – das hält jung. Nur …« Jetzt blickt er den alten Fischer ernst an und sagt: »du kannst nicht ewig fischen. Das weißt du selbst, oder? Und Arno kann auf Dauer nicht für dich mitarbeiten. Nachwuchs gibt es nicht. Keiner will das mehr machen, es lohnt sich einfach nicht mehr. Darum müsst ihr was verändern, ihr könnt nicht so weitermachen wie eure Väter und Großväter, seht das doch endlich ein! Was ich vorhabe, ist das ganz große Geschäft für uns alle. Was hat Gorbatschow noch gesagt? ›Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen‹. Denkt mal drüber nach.«
Er macht eine Pause, wartet vielleicht auf Applaus, aber der kommt nicht. Dann nickt er Berta zu und geht langsam weg.
Jetzt steckt Paul sich doch eine Zigarette an. Berta bemerkt, dass seine Hände zittern. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Auch Arno schweigt. Nach einer Weile fährt er damit fort, den aufgespießten Fisch in den Räucherofen zu hängen.
Paul und Berta sehen über die Dünen hinweg auf die Ostsee. »Fisch hat es immer gegeben und wird es immer geben«, erklärt er schließlich entschlossen. »Alles andere ist Mumpitz. Und wenn wir noch weniger fischen, ist doch auch egal. Wir können dann ja auch Kutterfahrten machen, nicht, Arno? Das mögen die Gäste, die bezahlen gut dafür.«
»Du weißt doch gar nicht genau, was Fux vorhat. Anhören könntet ihr es euch doch wenigstens«, schlägt Berta vor.
»Er hat gesagt, er braucht meine Buden dazu«, fährt Plötz sie an. »Und mehr brauch ich nicht hören von diesem Halunken. So lange ich noch ein Bein vor das andere setzen kann, behalte ich die Hütte. Wo soll ich denn sonst im Winter in Ruhe meinen Grog trinken und mit den Leuten reden? Ich kann doch nicht den ganzen Tag in der Kneipe sitzen, da darf ich ja nicht mal rauchen. Und zu Hause? Da geht mir meine Frau auf die Nerven. Außerdem muss ich die Ostsee sehen. Und hören und riechen.«
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