THOMAS SPARR
VON UNGARN IN DEUTSCHLAND
Ivan Nagel (Budapest 1931–Berlin 2012) zum Gedächtnis
Budapester Straßen
Sommer in Budapest
Menschen im Hotel
Zwischen Ost und West
Momentaufnahmen
1918
Gründerfigur
Die Seele und die Formen
Der Sonntagskreis
Metaphysikermacht
Babylon Budapest
Die Seele und die Dinge
Der Freischwebende. Karl Mannheim
Der Verwaiste. Arnold Hauser
»Wissen Sie, ich bin gerne ich.« Edit Gyömrői
1944
Einmarschmusik. Familie Nagel
Der geänderte Name. Familie Szondi
»Sie sind da.«
Retter. Rezső Kasztner
Das Ende, ein Anfang
Dr. Faustus aus Budapest
Der geteilte Ideenhimmel
1956
Péter – Peter Szondi
»Staatenlos – jüdisch – homosexuell«. Ivan Nagel
»Kein echter Ungar«. György Ligeti
»Balkanese«. Lucien Goldmann
»Genosse Lukács«. Ágnes Heller
Schnellzug »Hungaria«. Franz Fühmann
Reisen nach Berlin
Dank
Literatur
Die Budapester Straße im Westen Berlins misst gerade einmal 950 Meter. Sie begrenzt den Zoologischen Garten, der am Elefantentor einen Eingang neben dem Berliner Aquarium hat, unweit vom Hotel Palace und dem Europa-Center, beides Orte, deren geschichtliche Bedeutung in Berlin kaum noch jemand kennt. Die städtebauliche Veränderung auch dieser Straße erzählt, wie oft in dieser Stadt, etwas von den Umbrüchen und Zeitläuften: Ursprünglich verlief die Budapester Straße auf der stolzen Achse zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, die man nach dem Tod des ersten Reichspräsidenten in Friedrich-Ebert-Straße umbenannte. Um den Namen Budapests nicht zu tilgen, benannte die Reichshauptstadt den nordöstlichen Teil des Kurfürstendamms, der heute vorbei am Hotel Interconti den Zoo entlangführt, in Budapester Straße um und bezog vierzig Jahre später, im Februar 1965, ein Teilstück zur Nürnberger Straße mit ein. Sechs Jahre zuvor hatte man den Kreisverkehr um die Gedächtniskirche aufgehoben und eine Verbindung von der Ecke Tauentzienstraße / Kurfürstendamm hergestellt, die sogenannte »Schnalle«. Sie führte ostwärts in Richtung Potsdamer Platz, westwärts in Richtung Hardenbergstraße. Man errichtete eine Unterführung entlang der Budapester Straße. Der Weg war so konzipiert, dass an der Ecke ein kreuzungsfreies Abbiegen nach Westen möglich war, nicht aber nach Osten. Der Westen war eben in der geteilten Stadt – denken wir an Ku’damm 59 – die entscheidende Himmelsrichtung. Es gab einen Autotunnel, einen Fußgängerbereich, Blumenbeete, um den Verkehr zu regulieren. Um 2004 gestaltete man den westlichen Teil der Budapester Straße neu, schüttete den Tunnel zu, das Bikinihaus erwachte zu neuem Leben. Der nahe gelegene Breitscheidplatz brachte es im Dezember 2016 zu trauriger Berühmtheit durch den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten und zahlreichen Verletzten.
Auch Hamburg hat eine Budapester Straße, mitten in der Stadt am östlichen Ende der Reeperbahn. Ursprünglich war es die damals noch stadtauswärts gelegene Eimsbütteler Straße, die man 1946 nach Ernst Thälmann benannte, den sechzig Jahre zuvor in der Hansestadt geborenen Sohn der Stadt, Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands und Kandidaten bei den schicksalhaften Reichspräsidentenwahlen der Weimarer Republik 1925 wie 1932. Nach der Machtübertragung 1933 wurde Thälmann verfolgt, entrechtet, verhaftet und 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Nach dem Aufstand in Ungarn gegen die sowjetische Besatzung im Herbst 1956 benannten die Hamburger die asphaltierte Erinnerung in Budapester Straße um. Aber der Name Thälmann verschwand nicht ganz aus dem Stadtbild. Er ist heute Namenspatron eines Platzes an seinem Geburtshaus in Hamburg-Eppendorf.
Wir fahren elbaufwärts: Die Budapester Straße in Dresden überquert an einer Stelle die Gleise, auf denen die Bahn von Budapest nach Berlin und zurück fährt. Ursprünglich war sie Teil der Chemnitzer Straße. In der DDR baute man die kriegszerstörte Strecke zu einer vierspurigen Hauptverkehrsader aus und beließ es zunächst beim ursprünglichen Straßennamen. Erst 1968 machte sich politisches Unbehagen Platz und man benannte die Straße, die doch an Chemnitz erinnerte, das man 15 Jahre zuvor brachial Karl-Marx-Stadt getauft hatte, in Budapester Straße um. Eine Verlegenheitslösung; Karl-Marx-Stadt-Straße wäre kein passender Name gewesen. Zumindest stimmte die Himmelsrichtung gen Osten, gen Budapest.
Nur: Warum heißen diese Straßen mit ihren langen, verworrenen Geschichten Budapester Straße? Kaum einer der Anwohner wird darauf eine Antwort wissen. Es wird auch kaum eine oder einen interessieren. Und doch haben die Stadtoberen in Berlin – um nur sie zu nennen – aus einem dunklen, ihnen selbst kaum bekannten Grund den Straßennamen beibehalten – nach dem Fall der Mauer, nach all den Umbenennungen von Straßen und Plätzen, abmontierten Tafeln und Plaketten, auch Denkmälern keine Selbstverständlichkeit. Die kurze Straße in der westlichen Herzkammer Berlins zeugt von der Präsenz einer anderen Stadt – man mag sie nicht Schwesterstadt nennen, das würde Bewusstheit, Nähe voraussetzen – von Budapest in Berlin. In Hamburg wird eine andere Geschichte von Budapest erzählt, in Dresden wieder eine andere. Es sind Geschichten peinlicher Umbenennungen von Straßen, Plätzen, von einer ganzen Stadt im eigenen Land.
Im Februar 1978 entdeckte ich die gerade bei Suhrkamp erschienenen Schriften von Peter Szondi, seine Theorie des modernen Dramas , die mich, wie viele Studierende der Philologien und die meisten Theaterleute, in seiner Präzision im Detail, der klaren Unterscheidung von Gattungen, in den weiten historischen Zusammenhängen faszinierte. Im Mai 1979 lernte ich in Hamburg Ivan Nagel kennen, damals Intendant des Deutschen Schauspielhauses, mit 1200 Plätzen das größte Sprechtheater in Deutschland. Das neobarocke Gebäude, 1900 mit Goethes Iphigenie auf Tauris eröffnet, erinnert nicht zufällig an Wien. Aus der Hauptstadt der K.-u.-k.-Monarchie hatten die Hamburger Bürger die Architekten geholt. Ich hatte gelesen, dass Szondi und Nagel seit ihrer Budapester Kindheit befreundet waren. Danach fragte ich ihn, und Ivan Nagel berichtete, wie er als 13-Jähriger im Frühsommer 1944, nach dem Einmarsch der Deutschen in Budapest, mit seinen Eltern, dem Bruder Gyula und dem zufällig anwesenden Peter Szondi in ihrer Wohnung verhaftet wurde. Es sei »nicht so schlimm« gewesen; später seien sie wieder freigekommen, wenn auch nur für kurze Zeit. Und er erzählte, dass er Peter Szondis frühen Tod – er hatte sich im Oktober 1971 mit 42 Jahren in Berlin das Leben genommen – nie verwunden habe. Die Antwort hat sich mir so eingeprägt, weil mir erst später bewusst wurde, dass es zwischen beidem – der Verhaftung durch die Geheimpolizei und Peter Szondis Freitod – einen Zusammenhang geben könnte.
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