Dass Georg Lukács – genauer: von Lukács – seine Romantheorie im Sommer 1914 entworfen hatte, ist so wenig Zufall wie der Ort: Heidelberg war am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein geistiges Zentrum von unvergleichlicher Ausstrahlung, mit Max Weber und seinem Kreis, Stefan George und seinen Jüngern, mit Friedrich Gundolf und Karl Jaspers, um nur sie zu nennen. In den Jahren zuvor hatte Lukács in Berlin studiert, bei Georg Simmel Vorlesungen gehört.
In seinem neuen Vorwort blickt Lukács auf die Entstehung seiner Theorie des Romans fast ein halbes Jahrhundert zuvor zurück, vorwurfsvoll, entschuldigend, rechtfertigend, was seinen Idealismus betrifft, seine vermeintliche Blindheit gegenüber historischen Umständen. Ausgelöst sei Die Theorie des Romans von der Erschütterung des Ersten Weltkriegs gewesen. Als Marianne Weber, die Frau des Heidelberger Soziologen, einzelne Heldentaten des Kriegs anführte, erwiderte der junge Ungar: »Je besser, desto schlimmer.« In jedem möglichen Sieg sah er die Niederlage. Sein Text entstand in einem Augenblick permanenter Verzweiflung über den Weltzustand. Der denkbare Ausgang des Krieges führte zu der Frage: »Wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?« Und Lukács fügt in Klammern hinzu: »(Die Aussicht auf einen Endsieg des damaligen Deutschland empfand ich als einen Alpdruck.)«
Die Neuausgabe der Theorie des Romans war 1962 für eine westdeutsche Leserschaft bestimmt. In Ungarn oder den anderen sozialistischen Ländern hätte sein Buch gar nicht erscheinen dürfen. Das erklärt den defensiven, fast entschuldigenden Ton, den der Verfasser voranstellt, um seine Schrift aus Zeitumständen und Stimmungen zu erklären, die er vor allem einer jüngeren Leserschaft nahebringen will. Andererseits sperrt er sich nicht gegen die neue Ausgabe nach Jahrzehnten, und man spürt beim Rückblick eine stolze Selbstbehauptung. »Die Theorie des Romans ist nicht bewahrenden, sondern sprengenden Charakters«, schreibt der 77-Jährige und grenzt sich besonders von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen ab, von einer »Kriegsschrift« voll von restaurativer Gesinnung, die 1918 erschienen war. In dieser Schrift rechtfertigt Thomas Mann Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg, den Krieg überhaupt, die Besetzung Belgiens. Er spielt die westlichen »Zivilisationsliteraten« gegen die ernste deutsche Kunst aus, eine Kriegskunst. Diese Betrachtungen nimmt Lukács als Gegenbuch zu seiner Theorie des Romans wahr. Er sieht in seinem Buch nicht Ruinen, sondern den Sprengsatz seiner Jugend, in der Nähe zu Ernst Blochs Geist der Utopie , ein epochemachendes Buch, das zur gleichen Zeit entstanden war.
Thomas Mann wiederum wird Georg Lukács ein literarisches Denkmal setzen: Als Leo Naphta kehrt er im Zauberberg wieder, eine eigene faszinierende Verwandlung, nachdem beide Herren einander in den 1920er Jahren begegnet waren und sich noch einmal an einem symbolträchtigen Ort unter historisch ganz anderen Vorzeichen wieder treffen sollten: 1955 in Weimar, wo die DDR an Schillers 150. Todestag erinnerte. Lukács reiste aus Budapest an.
Man hat sich über die Jahrzehnte daran gewöhnt, den frühen vom späten Lukács zu unterscheiden, oft auch beide gegeneinander auszuspielen, den Essayisten gegen den Marxisten, den Lebensphilosophen gegen den Systematiker, den freien Autor gegen den Politiker. Das Späte hat man dabei früh datiert, auf sein Buch Geschichte und Klassenbewußtsein , das 1923 erschien. In Wirklichkeit ist der frühe Lukács vom späten nicht zu trennen. Die Impulse des Revolutionären, Sprengenden sind schon in den ersten Aufsätzen und impressionistischen Skizzen angelegt, wie Lukács auch von Beginn an nach dem Sozialen in der Kunst fragt. All das führte zu gravierenden methodischen Veränderungen, zu neuen Erkenntnissen, auch zu einem ganz neuen Stil. Die Emphase, ja das Pathos der frühen Jahre wich einer grauen Sprache der späteren Arbeiten von Lukács. Das Doktrinäre hielt Einzug. Man darf darüber nicht die Bedeutung von Georg Lukács vergessen.
Der Titel Hotel Budapest klingt nach Komfort, Reisen, heiterem Verweilen, nach Kurzweil. Für die Protagonisten dieses Buches wurde Berlin, der Westen überhaupt ein langer Aufenthalt, oft einer ohne Rückkehr. Das Hotel hat eine tiefere Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheint. Im Budapester Sommer 1962 erhebt Lukács den Vorwurf, »die deutsche Intelligenz« – und damit meint er vor allem die Frankfurter Schule – sei in einem Grandhotel abgestiegen:
»Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen, ein […] ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.‹«
Das »Grand Hotel Abgrund«, das Lukács erfindet oder, um es genau zu sagen: das er wieder findet, hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Stuart Jeffries wählte es 2016 zum Titel für sein Buch Grand Hotel Abyss über die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Der eigentliche Antipode von Lukács’ Sätzen ist Theodor W. Adorno. Der Frankfurter Soziologe und Philosoph, eine Generation jünger, hatte vier Jahre zuvor eine scharfe Polemik gegen ein Buch von Lukács verfasst, das 1958 im Claassen-Verlag in Düsseldorf, also im Westen erschienen war: Wider den mißverstandenen Realismus . Von dem, was Lukács als sozialistischen Realismus schätzt, trennen Adorno Welten und Werke. Adorno schätzt all das, was den Realismus in der Kunst im landläufigen Sinn hinter sich lässt, also deutlich gezeichnete Figuren, soziale Szenen, historische Ereignisse. Samuel Becketts Stücke etwa zeigen für Adorno deutlicher das Reale, Individuelle. Seinen Aufsatz »Versuch, das Endspiel zu verstehen« hat er Samuel Beckett gewidmet. Der Zufall hat es gefügt, dass dieser Text in den Gesammelten Schriften gleich nach der harschen Kritik an Lukács abgedruckt ist.
Adorno rühmt Lukács’ frühe Schriften und deren Einfluss: »Die Theorie des Romans zumal hat durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward.« In Lukács’ neuem Buch Wider den mißverstandenen Realismus sieht der Frankfurter Kritiker indessen kaum mehr als eine Gleichschaltung mit »dem trostlosen Niveau der sowjetischen Denkerei«, in der These von der »Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit« entdeckt er einen verbissenen Vulgärmaterialismus, macht eine Pedanterie des Duktus wie eine Schlamperei im Einzelnen aus, mit der Lukács den Realismus verteidige und Joyce, Beckett, auch Proust kritisiere, weil sie jedenfalls nach Lukács’ Urteil die Fühlung zur Wirklichkeit verloren hätten.
Dabei überrascht, dass Adorno Lukács’ Buch überhaupt mit einer so ausführlichen Kritik bedenkt oder sagen wir: beehrt. Diese Energie lässt auf enttäuschte Nähe schließen. Lukács war ein Lehrmeister des Philosophen und Soziologen, ja ein Idol seiner Jugend. Adorno hat die Freiheit im Denken, in Stil und Methode des jungen Lukács bewundert, seine souveräne Verbindung von Literatur und Soziologie, sein souveränes Setzen von Begriffen. Es sind Donnerwörter wie Freiheit, Form oder Seele, alles Wörter, die wir heute, wenn überhaupt, nur noch mit größter Vorsicht verwenden. 1924 hatte der junge Philosophie- und Musikstudent Adorno Lukács in Wien besucht. Und erst recht verbindet den Jüngeren mit dem Älteren die Form des Essays, der beide nachsinnen.
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